Kapitel 26: Unsicherheit

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Ich dachte viel nach. Über Noah und mich und wie es mit uns weitergehen sollte. Zuerst einmal merkte ich, dass ich Zeit brauchte. Noahs Abweisung hatte mich sehr verletzt. Das war der Grund, weshalb ich Weihnachten komplett zu Hause verbrachte, anstatt wie verabredet am 25. Dezember zu ihm zu fahren.
Die ersten Tage ohne Noah fielen mir unheimlich schwer. Ich konnte an kaum etwas anderes denken als an ihn und hätte ihn am liebsten auf der Stelle angerufen. Doch diesmal musste ich mir Zeit lassen, um herauszufinden was ich wirklich wollte.

Letztendlich kam ich zu dem Entschluss, dass ich keine freundschaftliche Beziehung zu Noah führen konnte. Ich hatte Gefühle für ihn, starke Gefühle, und die konnte und wollte ich nicht einfach unterdrücken. Und so sagte ich mir immer wieder, dass es das Beste war, mich einfach nicht mehr bei ihm zu melden und die Liste zu vergessen.

Und das bekam ich erstaunlich gut hin. Von Tag zu Tag dachte ich weniger an Noah und konzentrierte mich stattdessen mehr auf mich selbst und das Studium. Das machte zwar einsam, doch meine Noten dankten mir - genau wie meine Eltern, die sich an meinen schulischen Erfolgen stets erfreuten.
Die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit verblassten nach und nach. Mittlerweile war März, und ich hatte seit über 2 Monaten nichts mehr von Noah gehört. Natürlich dachte ich noch ab und an an ihn, schließlich verband ich sehr viele Dinge mit unserer gemeinsamen Zeit. Wenn ich spazieren ging und die Natur betrachtete, kreisten meine Gedanken unwillkürlich um Noah und unseren Wandertag. Wenn ich nachts in den Sternenhimmel blickte, suchte ich automatisch die Kassiopeia. Dieses Sternbild ließ jegliche Erinnerungen an die kalte November Nacht, in der Noah mir die Sterne erklärt hatte, aufflammen.
Doch im Allgemeinen kreisten meine Gedanken immer weniger um Noah, und es tat bei Weitem nicht mehr so weh. Ich hatte akzeptiert, dass er meiner Vergangenheit angehörte.

Doch an diesem erfrischenden Frühlingstag im März wurde alles zunichte gemacht. Ich war gerade auf dem Heimweg, zuvor hatte ich mit Oliver für die anstehenden Klausuren gelernt, als mich der Anruf erreichte. Die Nummer, die das Display anzeigte, kannte ich nicht. Irritiert, aber gleichermaßen neugierig, nahm ich den Anruf entgegen.
"Ja?"
"Estelle?", fragte eine leise, helle Stimme. Ich kannte diese Stimme zweifelsohne, doch ich konnte sie im ersten Moment nicht einordnen. Ich wartete ab, bis die Person weitersprach.
"Hier .. hier ist Lilly, die Schwester von Noah."
Jetzt konnte ich die Stimme zuordnen.
"Alles okay? Ist etwas mit Noah?", fragte ich alarmiert. Warum rief sie an?
"Nein nein, alles okay", beruhigte sie mich. "Zumindestens mehr oder weniger", fügte sie mit leiser Stimme hinzu.
"Kann ich dir irgendwie helfen, Lilly?"
"Können wir uns vielleicht treffen? Ich muss dringend mit dir reden."
"Worum geht es denn?", erkundigte ich mich misstrauisch.
"Das würde ich lieber persönlich klären", antwortete sie "Hast du Zeit? Wie wäre es in zwei Stunden im 'Café Denaux'?"
"Ich werde da sein", erwiderte ich.

Und so kam es, dass ich mir zwei Stunden später einen Weg durch die zu eng beieinander stehenden Tische im 'Cafe Denaux' bahnte. Ich entdeckte Lilly in der hintersten Ecke und setzte mich ihr, neugierig und gleichermaßen misstrauisch, gegenüber in die Sitzbank. Lilly sah wie immer fantastisch aus. Ihr hellbraunes Haar fiel ihr in Wellen über die Schulter und sie trug ein figurbetonendes, cremefarbenes Kleid. In meinem weiten Shirt und meiner ausgewaschenen Jeans fühlte ich mich gleich unwohl.
"Estelle", sagte sie und verzog ihren Mund zu einem halbherzigen Lächeln.
"Hallo, Lilly."
Wir bestellten uns jeweils einen Cappuccino und ein Blaubeermuffin.
"Warum wolltest du mich so dringend sprechen?", fragte ich, als ich meine Neugier nicht mehr länger im Zaum halten konnte.
"Es geht um Noah", sagte sie und trank einen Schluck ihres Cappuccinos.
"Er verkriecht sich nur noch in seinem Zimmer und kommt selten mehr raus. Seine lebensfrohe Art ist komplett verschwunden, Estelle, und das ist deine Schuld!" Während sie sprach wurde ihre Stimmen zunehmend lauter.
"Meine Schuld?", fragte ich verblüfft. "Wie kannst du mir die Schuld daran geben?"
"Seit du den Kontakt zu ihm abgebrochen hast, verhält er sich so! Weißt du, wie weh du ihm damit tust?"
Wie bitte? Er verkroch sich wegen mir in seinem Zimmer? Der Kontaktabbruch ging im Nahe, sogar noch nach der Zeit? Und ich dachte, er hätte mich schon längst vergessen!
"Solltest du dich nicht freuen? Ich meine, du konntest mich doch eh nie leiden", war das Einzige, was ich sagte.
"Es stimmt, ich kann dich nicht leiden, Estelle. Aber noch weniger kann ich es leiden, wenn mein Bruder leidet. Morgen hat er Geburtstag, und ich finde, du solltest vorbeikommen. Ich bin sicher, dass er sich darüber freuen würde. Du tust ihm weh, und ich weiß, dass du auch dir selbst weh tust, wenn du dich noch länger von ihm fern hälst. Denk darüber nach."
Uff, das musste ich erstmal verdauen. Woher wusste Lily, dass mir Noahs Verlust so nahe ging?
Sie stand auf, um zu bezahlen.
"Die Rechnung geht auf mich. Ich erwarte dich morgen, Estelle."
Sie legte einen 10 € Schein auf den Tisch und verließ ohne ein weiteres Wort das Café. Wollte sie mich etwa bestechen?
Doch sie hatte mich schon längst überzeugt. Ich würde morgen auf Noahs Geburtstag gehen. Natürlich würde ich hin gehen.

Ich überlegte lange, was ich Noah schenken konnte, bis mir die Idee kam. Sie war brilliant, doch gleichermaßen war ich unsicher. Doch um die Idee überhaupt umsetzen zu können, brauchte ich meine beste Freundin.

"Das ist nicht dein Ernst", sagte Lola. "Nach zwei Monaten hast du es endlich geschafft, über ihn hinweg zu kommen, und jetzt willst du dich mit ihm treffen? Er tut dir nicht gut, du hast so gelitten wegen ihm!" Sie schaute mich empört an.
"Ich weiß, Lola, und ich bin gerührt, dass du dir solche Sorgen um mich machst. Aber ich glaube, ich tue das Richtige, wenn ich morgen zu ihm fahre. Vielleicht .. haben wir beide ja doch noch eine Chance."
Lolas Blick wurde mitfühlend. "Ich weiß nicht, Estelle. Er hat dir so weh getan, und ich kann es nicht leiden, wenn dir jemand weh tut."
Ich schloss sie in die Arme. "Danke, das weiß ich zu schätzen. Aber wenn ich nicht hinfahre, dann denke ich die ganze Zeit darüber nach, vielleicht einen Fehler gemacht zu haben. Ich muss ihn treffen, um herauszufinden, was das zwischen uns ist. Also, hilfst du mir mit dem Geschenk?"

Ich erklärte ihr den Plan, und sie war beeindruckt: "Ein Fallschirm Sprung? Das ist genial, zumal der Punkt ja auch auf eurer Liste steht, aber meinst du nicht auch, dass es etwas kurzfristig ist?"
"Ja, schon, aber kannst du deinen Onkel bitte trotzdem anrufen?"
Lola hatte einen Onkel, der Veranstaltungskaufmann war und verschiedene Attraktionen organisierte.
"Wenn du es möchtest, rufe ich ihn an. Aber, Estelle .. bist du sicher, dass er die Liste weiterführen will, und, was noch viel wichtiger ist: Möchtest du die Liste weiterführen?"
"Ich möchte es.. und wie er dazu steht, werde ich morgen herausfinden."

Lola rief wie versprochen ihren Onkel an. Gespannt wartete ich ab, was sich aus dem Telefonat ergab.
"Onkel Bernhard sagt, dass sie in einer Woche einen Termin freihaben. Es ist aber sehr teuer, Estelle."
"Es ist sein Geburtstag", erwiderte ich. Außerdem hatte ich über Jahre hin eine beachtliche Summe an Geld zusammen gespart. Das Geld spielte keine Rolle - was mir viel mehr Sorgen machte, war die Unsicherheit, ob ihm das Geschenk gefallen würde. Wollte er die Liste weiterführen? Wollte er mich überhaupt sehen?
Auf all die Fragen würde ich morgen eine Antwort finden.

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Habt ihr Verbesserungsvorschläge? Was sagt ihr zum Handlungsverlauf? Lasst es mich gerne in den Kommentaren wissen ♡

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt