Kapitel 43: Ein besonderer Ort

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~ Estelles Perspektive ~

Ich kochte Putenschnitzel mit Champignonsoße und Kartoffeln und bereitete anschließend einen cremigen Nachtisch zu. Damit wollte ich die Jungs überraschen. Meine Stimmung war gut, ja, beinahe euphorisch. Noah würde sich operieren lassen! In diesem Moment fühlte ich mich unbesiegbar. Natürlich wusste ich, dass die Zeit alles andere als einfach werden würde. Noah musste eine Chemotherapie machen und all die Nebenwirkungen, sowie die Risiken der Operation in Kauf nehmen. Doch ich war mir sicher, dass Noah mit seinem starken Willen den Krebs besiegen konnte. Und ich würde ihm, so gut ich konnte, dabei helfen.

Als das Essen fertig auf dem Tisch stand, war ich ziemlich stolz auf mich. Ich rief die Jungs in die Küche, und sie waren überrascht und freuten sich. Zur Feier des Tages stellte ich außerdem eine Flasche Sekt auf den Tisch. Noah lehnte ab. "Ich möchte gleich noch mit dir an einen besonderen Ort fahren", erklärte Noah mit geheimnisvoller Stimme. Ich lächelte in mich hinein.
"Das Essen schmeckt super", lobte Noahs bester Freund Bryan mit vollem Mund. "Es wäre wirklich nicht nötig gewesen."
"Es ist noch viel zu wenig. Schließlich lässt du uns bei dir wohnen", widersprach ich.
"Das macht überhaupt nichts, Noah würde das selbe für mich tun", erklärte Bryan lächelnd. Wieder einmal schämte ich mich dafür, dass ich Bryan zu Anfang so falsch eingeschätzt hatte, ohne ihn zu kennen. Zum Glück hatte er mich vom Gegenteil überzeugt. Er war ein netter und offenherziger junger Mann und er schien Noah wirklich wichtig zu sein. 
Nach dem Essen und dem Abwasch war es 19 Uhr. Wohin wollte Noah mit mir? Als ich ihn nach dem besonderen Ort, wie Noah ihn genannt hatte, fragte, sagte er nur: "Lass dich überraschen."
Das Wetter war noch besser als am Vortag, es war trocken und so warm, dass wir keine Jacken benötigten. Bald brachen wir auf. Noah hatte einen Rucksack gepackt, wollte mir aber nicht verraten, was er hinein gepackt hatte. "Dann wäre es keine Überraschung mehr", erklärte er.

Wir fuhren ein Stück mit Noahs Auto und hörten währenddessen eine Playlist von Theory of a Deadman. Irgendwann stellte Noah den Wagen am Waldrand ab. Es hatte ein wenig abgekühlt und ein sanfter Wind kitzelte meine Haut, doch noch immer war es angenehm. Wir liefen in den Wald hinein. An dem Bäumen wuchsen Knospen und die Stämme waren von weißen, kleinen Buschwindröschen umgeben. Unzählige Buschwindröschen. Vögel zwitscherten eine harmonische Melodie. Hier und da raschelte das Unterholz, und ich entdeckte einen kleinen Hasen ins Gebüsch flitzen. Wieder einmal staunte ich über die Natur. Sie war voller Leben. Plötzlich zog Noah mich unvermittelt an sich und drückte mir einen Kuss auf sie Lippen. "Das Gefühl von deinen Lippen auf meinen überwältigt mich immer wieder von Neuem", flüsterte er.
"Du bist perfekt", wisperte ich, denn diese Tatsache wurde mir in diesem Augenblick mal wieder überdeutlich bewusst. "Alles an dir ist perfekt."
Noah lachte nur und schüttelte sachte den Kopf. "Nein, Estelle, davon bin ich meilenweit entfernt. Und du auch. Genau wie jeder andere Mensch. Niemand ist perfekt, aber ich liebe dich mit all deinen Fehlern. Komm, wir sind gleich da."
Er ergriff meine Hand und zog mich tiefer und tiefer in den Wald hinein. "Mach die Augen zu", flüsterte er, und ich tat es, denn ich vertraute ihm blind. Im wahrsten Sinne des Wortes.  Vor wenigen Monaten noch wäre ich misstrauisch gewesen, hätte mich vermutlich nicht darauf eingelassen. Doch ich wusste, dass Noah mich niemals willentlich verletzen würde, und so schloss ich die Augen. Er führte mich vorsichtig weiter und fing mich auf, als ich über eine Wurzel stolperte. Bald blieben wir stehen.
"Öffne jetzt deine Augen", wies Noah mich an.

Der Ausblick war atemberaubend. Der Wald lichtete sich. Vor mir sah ich einen glänzenden See mit einem kleinen Wasserfall. Ich fragte mich kurz, warum ich die Geräusche nicht sofort wahrgenommen hatte. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Am anderen Ufer sah ich blühende, saftig grüne Bäume. Sogar von hier aus erkannte ich kleine, weiße Punkte. Buschwindröschen. Lediglich das Plätschern des Wasserfalls und das Zwitschern der Vögel war zu hören. Es war so schön, dass ich tatsächlich den Tränen nahe war, nur von diesem Anblick. Noch nie war ich an einem so harmonischen, liebevollen Ort gewesen.
"Und, gefällt es dir?", fragte Noah leise und drückte sanft meine Hand, die noch immer in seiner ruhte. Ich drückte zurück, denn ich fand keine Worte für diesen atemberaubenden Ort. Irgendwann flüsterte ich: "Es ist wunderschön", denn dieses Wort drückte meine Gefühle vermutlich am besten aus.
"Weißt du, wo wir hier sind?", wollte Noah wissen, und ich schüttelte stumm den Kopf.
"Dann überleg", wies er mich an und küsste sanft meinen Hals.
"Ich weiß es nicht, Noah. Kannst du mir einen Tipp geben?"
"Denk an die Liste", erwiderte er lächelnd.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
"Das ist der Rain See?"
"Ganz genau", bestätigte Noah. "Und weißt du, was das bedeutet?"
"Du möchtest hier mit mir Baden gehen?", mutmaßte ich, als ich an die Liste dachte.
"Zwei mal richtig. Mein schlaues, schönes Mädchen", lobte er. "Ich habe keine Badesachen dabei", widersprach ich, ohne auf seinen letzten Kommentar einzugehen. "Und das, meine liebe Estelle, ist der Punkt", meinte Noah, und ich wusste bereits, was er als nächstes sagen würde. Zu gut erinnerte ich mich an den Punkt der Liste, die ich mir unzählige Male durchgelesen haben.
"Wir brauchen keine Klamotten. Wir baden nackt."

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Wie angekündigt schaffe ich es leider nicht mehr so oft zu updaten. Ich hoffe ihr bleibt trotzdem meine Leser :)
Wie findet ihr das Kapitel? Tut mir leid, falls es zu langweilig ist, das nächste wird sicher spannender :)

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt