Kapitel 4: Hausarrest

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Noahs Lippen waren weich und fühlten sich zart und vertraut an. Sein Piercing fühlte sich fremd, aber keineswegs unangenehm an. Dass er überrascht von dem Kuss war, merkte ich daran, dass er einige Sekunden regungslos verharrte, bevor er den Kuss vorsichtig erwiderte. Der Kuss begann gerade intensiv zu werden, als ich den schrillen Schrei meiner Mutter vernahm. Sie riss mich von Noah weg, blickte erst mich, und dann ihn wutentbrannt an und hob den Arm, als ob sie einen von uns ohrfeigen wollte. Oder auch beide. Letzten Endes kam sie jedoch noch zur Besinnung, ließ die Hand wieder sinken und zischte: "Hubert, komm, wir gehen jetzt."

Ich warf einen Blick auf meinen Vater, der noch immer mit den Tyso's am Tisch saß und Szenerie regungslos mit einem überraschten und leicht schockierten Gesichtsausdruck verfolgte. Er erwachte aus seiner Starre, stand mechanisch auf, strich sich den Anzug glatt und murmelte eine Entschuldigung. Sein Augenlid zuckte nervös.

Erst jetzt bemerkte ich die Stille, die sich über das Restaurant gesenkt hatte und spürte die neugierigen und genervten Blicke, die uns die anderen Gäste zuwarfen. Das schien nun auch meine Mom zu bemerken, denn sie zog mich aus dem Restaurant zu unserem Auto und schubste mich auf die Rückbank. Ihre zitternden Hände und ihr vor Wut rot angelaufenes Gesicht kündigten an, dass die nächsten Minuten nicht besonders angenehm für mich werden würden. Mein Vater nahm auf dem Fahrersitz Platz und steuerte den Lamborghini in Richtung unseres Hauses.

Die ersten 10 Minuten sagte niemand etwas, was fast noch schlimmer war als die Moralpredigt, die mich ohne Zweifel in naher Zukunft erwarten würde. Doch bald war es soweit und schließlich platzte meine Mutter heraus: "Estelle Rose Mathieu. Wir tun so viel für dich, und was ist der Dank? Du blamierst die gesamte Familie. Was wolltest du mit dieser Aktion eben beweisen? Dass du ein genauso störrisches Biest sein kannst wie deine Freundin Lola? Sie ist der falsche Umgang für dich, das habe ich schon immer gewusst. Und ab jetzt untersage ich dir den Kontakt zu ihr."
Mom gab mir ein paar Sekunden Zeit zu registrieren, was sie gesagt hatte, bevor sie im selben Tonfall fortfuhr: "Was hast du dir dabei gedacht? Denk an die Geschichte mit Ryan von vorletztem Jahr, möchtest du, dass ich das ganze wiederholt? Ist es das, was du willst?"
Unwillkürlich streifte meinen Blick bei dieser Erinnerung die Narben an meinem Handgelenk und ich erschauderte.
"Ich dachte, es wäre dir eine Lehre gewesen.", redete meine Mutter ohne Umschweife weiter. "Oder hast du die Aufmerksamkeit, die dir daraufhin geschenkt wurde, etwa genossen und möchtest, dass ich das Ganze wiederholt? Antworte mir!"
Ein Schluchzer entfuhr mir. "Das hast du mir gerade nicht ernsthaft unterstellt", flüsterte ich, tief getroffen von ihren Worten. "Du weißt, wie ich gelitten habe, Mutter." Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
"Genau, Estelle, ich weiß wie du gelitten hast, und deshalb kapiere ich verdammt noch mal nicht, warum du alles daran setzt, dasselbe wieder zu erleben."
"Noah ist nicht Ryan", flüsterte ich. "Und außerdem hatte der Kuss vorhin nichts zu bedeuten."
"Das möchte ich auch hoffen", sagte meine Mutter etwas leiser, doch die Schärfe in ihrer Stimme entging mir nicht. "Du wirst ihn nicht mehr wiedersehen, genauso wenig wie deine Freundin Lola. Du hast die nächsten zwei Wochen Hausarrest."
Ich schluchzte erneut. "Das könnte ihr nicht machen. Dad, sag doch auch mal was!"
"Vielleicht hat deine Mutter recht. Wir wollen nur das Beste für dich, Estelle. Du musst dich jetzt auf dein Studium konzentrieren. Da lernst du bestimmt viele neue Leute kennen, und mir gefällt die Entwicklung, die du vollzogen hast, seit du mit Lola befreundet bist, auch nicht.", antwortete mein Vater mit ruhiger Stimme.

Den Rest der Autofahrt schwiegen wir. Ich hatte weder Lust, noch Kraft zu diskutieren, und ich wusste, dass ich momentan nichts bewirken konnte. Wenn meine Mutter sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie kaum umzustimmen. Zu Hause angekommen ging ich in mein Zimmer, lernte noch ein bisschen und legte mich anschließend in Bett. Ich dachte über den skurrilen Abend nach und fiel schließlich in einen unruhigen Schlaf.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Ich verbrachte sie tatsächlich größtenteils in meinem Zimmer, lernte, las, oder sah Fernsehen. Den einzigen, den dies störte, war Lola. Sie wollte unbedingt, dass ich mich aus dem Haus schlich, um mit ihr auszugehen, doch schließlich überzeugte ich sie davon, dass es unklug war, nach der Nacht im Restaurant meine Eltern erneut zu verärgern. Mir schwirrte immer wieder im Kopf rum, was meine Mutter mir vorgeworfen hatte. Dass ich in der schlimmsten Phase meines Lebens nur Aufmerksamkeit gewollt hätte. Auch um Noah kreisten meine Gedanken immer wieder. Ich wollte mich sowohl bei ihm entschuldigen, als auch bedanken. Bedanken dafür, dass er mitgespielt hatte und den Kuss erwidert hatte, und entschuldigen dafür, dass ich ihn eventuell in Schwierigkeiten und definitiv in eine unangenehme Situation gebracht hatte. Doch als der Hausarrest vorbei war, lag der Kongress bereits zwei Wochen zurück, und ich wollte das ganze nicht wieder auwühlen. Und so versuchte ich, jenen Abend zu vergessen.

Am ersten Tag meiner zurückgewonnenen Freiheit zwang Lola mich buchstäblich dazu, mit ihr auszugehen, und ich hatte wirklich keine Lust. Ich hatte mich an das isolierte Leben in meinem Zimmer gewöhnt. Doch sie ließ nicht locker, und so kam sie Samstag Nachmittag bei mir vorbei, um mich zu schminken.
"Das wird super", beteuerte sie, während sie mir Lidschatten und Mascara auftrug.
"Außerdem ist es eine super Gelegenheit, jetzt, wo du einmal nicht unter der Beobachtung deiner Mom stehst"
Meine Elrern waren übers Wochenende nach Tokio gereist, um an einem wichtigen Anwältetreffen teilzunehmen.

Nachdem Lola mich geschminkt hatte, wählte sie ein Outfit für mich aus: Einen schwarzen Minirock und eine enge, rote Bluse. Die blonden Haare drehte sie mir zu sanften Wellen. Meiner Meinung nach sah ich viel zu overdressed aus, doch Lola duldete keinen Widerspruch, und so verließen wir das Haus, um uns einen schönen Mädelsabend zu machen.

Dass mich eine der peinlichsten Nächte meines Lebens erwartete, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

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So, ein weiteres Kapitel ist fertig. Ich finde es irgendwie nicht ganz so gelungen, was sagt ihr? Nächstes Kapitel versuche ich mehr Spannung reinzubringen. Es wird denke ich nächste Woche kommen. :)

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt