Kapitel 8: Ernste Gespräche

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~ Estelles Perspektive ~

"Okay?", fragte Noah, sichtlich überrascht von meiner Antwort.
"Ja, okay, lass es uns probieren", wiederholte ich.
"Im Ernst?"
"Ja, und jetzt akzeptier es, bevor ich es mir anders überlege", neckte ich ihn. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, und ehe ich mich versah, schlang er die Arme um mich, hob  mich hoch und wirbelte mich in der Luft herum. Als er mich wieder auf dem Boden absetzte, schien er die Überwältigung über diese spontane Geste in meinem Gesicht zu sehen, denn er sagte: "Oh, Entschuldigung ... ich bin nur so froh, dass du dich auf die Liste einlässt."
"Möchtest du vielleicht rein kommen?", wechselte ich das Thema. "Meine Eltern kommen erst übermorgen von ihrer Geschäftsreise wieder", ergänzte ich, als ich seinen zögernden Blick sah.
Er schien sich zu entspannen und nickte mir zu. Noah folgte mir in die Küche, die viel größer war als seine eigene, und als er so entspannt auf dem Küchenstuhl lehnte, wurde mir wieder einmal bewusst, wie gut er aussah. Und wie ich in meinem weiten Shirt und meiner grauen Jogginghose aussehen musste. In dem Moment sauste mein kuscheliger, kleiner Kater ins Zimmer. "Noah, das ist Zeus", stellte ich ihm meinen Kater vor. Zeus schmiegte sich an Noahs Bein. Schnell machte ich uns einen Kaffee, entschuldige mich und eilte nach oben, um für ein passables Aussehen meinerseits zu sorgen.

Ich zog mir eine enge schwarze Röhrenjeans, ein weißes Top und ein passendes Cardigan an, das meine Narben verdeckte. Normalerweise versteckte ich sie nicht, und auch wenn ich alles andere als stolz darauf war, schämte ich mich nicht. Doch ich war noch nicht bereit, Noah zu erklären, was passiert war.

Ich bürstete meine Haare und trug etwas Mascara auf. Als ich die Treppe wieder hinunter ging, erwischte ich Noah dabei, wie er ein gerahmtes Bild in den Händen hielt und eingehend betrachtete. Ich wusste sofort, welches Bild es war, und fühlte mich hintergangen. Woher nahm er sich das Recht, so in meine Privatsphäre einzudringen? Vermutlich hatte ich ein Geräusch gemacht, den Noah hob den Kopf und sah mich entschuldigend an. Er schien zu bemerken, dass ich nicht erfreut über sein Verhalten war, denn er sagte: "Tut mir leid, ich wollte nicht herumschnüffeln." Sein aufrichtiger Gesichtsausdruck verriet mir, das es keine leeren Worte waren, und mein Ärger verflog augenblicklich.
"Schon okay", antwortete ich.
Ich setzte mich neben ihn und betrachtete mit ihm zusammen das Bild.
"Ganz links bin ich. Ich muss zwei oder drei Jahre alt gewesen sein. Ganz rechts siehst du meine Schwester Josie. Sie ist fast vier Jahre älter als ich, also war sie ist da schätzungsweise sechs. Und in der Mitte ... da siehst du Theodor, meinen Zwillingsbruder." Das Bild zeigte uns in unserem Garten. Wir hielten uns an den Händen und strahlten. Auch wenn ich keinerlei Erinnerungen an den Tag, an dem das Bild entstanden war, hatte, wusste ich, dass es ein schöner Tag gewesen sein musste.

"Ich wusste gar nicht, dass du einen Zwillingsbruder hast", holte mich Noahs tiefe Stimme zurück in die Gegenwart.
"Auch wenn man es ihm auf dem Bild nicht ansieht, litt Theo seit seiner Geburt an einer schweren Atemkrankheit. Seine Lunge konnte den Sauerstoff nicht ausreichend regulieren. Theos Lebenserwartung betrug sieben Jahre, doch er wurde leider nur vier."
"Das tut mir unheimlich leid.", sagte Noah leise.
"Das muss es nicht, zumindestens nicht für mich", widersprach ich. "Ich habe kaum Erinnerungen an meinen Bruder, ich war einfach noch zu klein, als er starb. Ich habe nicht verstanden, was mit ihm passiert ist, und deshalb tat es mir auch nicht so weh. Natürlich fehlt er mir unheimlich doll und ich werde nie wieder vollständig sein, doch der Verlust war viel schlimmer für meine Eltern und meine ältere Schwester. Ganz einfach, weil sie zu dem Zeitpunkt wussten, was es mit dem Tod auf sich hat."
"Hast du Angst vor dem Tod?", wollte Noah von mir wissen. Diese Frage überraschte mich. "Natürlich", antwortete ich wahrheitsgemäß.

"Ich habe keine Angst", erklärte Noah mir. "Der Tod ist unvermeidlich. Viel wichtiger ist es doch, die kurze Zeit, die man leben darf, zu genießen. Man sollte so leben, wie man es selbst möchte. Man sollte für sich selbst leben, und nicht für andere." Langsam aber sicher wurde mir die Bedeutung seiner Worte bewusst. Und, dass er absolut recht hatte. Er wartete darauf, dass ich etwas erwiderte, doch ich war unfähig zu sprechen.

Wir wurden von der Türklingel aufgeschreckt. Einerseits dankbar, der Situation entfliehen zu können und andererseits wütend darüber, gestört zu werden, ging ich zur Tür. Ich machte die Haustür auf und vor mir stand meine beste Freundin. "Hey Lola, gerade ist es etwas ungünstig, ich habe Besuch", setzte ich an, doch Lola war schon an mir vorbei marschiert. Sie blieb abrupt stehen, fing sich aber schnell wieder und sagte zu Noah: "Du musst der Junge sein, der meine Freundin so aus der Fassung bringt. Noah, richtig? Ich habe schon viel von dir gehört, Estelle redet schließlich ununterbrochen von dir." Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu und ich merke, wie ich rot anlief. War das ihr Ernst? Ich hätte Lola am liebsten erwürgt. "Ich bin übrigens Lola", stellte sich meine beste Freundin vor. Sie streckte die Hand aus, und Noah ergriff und schüttelte sie.
"Freut mich wirklich sehr, dich kennenzulernen, Lola", erwiderte Noah und lächelte ihr freundlich zu.  "Ich lasse euch zwei dann mal alleine."

"Nein nein, bleib doch", bot Lola ihm an, doch Noah erwiderte: "Ich muss arbeiten, von daher muss ich gehen."

Traurig darüber, dass er mich jetzt schon wieder verließ, begleitete ich ihn zur Tür. Er lehnte sich vor, und ich dachte im ersten Moment, dass er mich küssen wollte, und fragte mich gleichzeitig, ob ich wollte, dass er mich küsst, doch er beugte sich stattdessen zu meinem Ohr und flüsterte: "Morgen, 14 Uhr. Ich hole dich ab. Wir fangen an, die To-Do-Liste abzuarbeiten." Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte sich um und schloss die Haustür hinter sich. Ich vermisste ihn augenblicklich.

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