Kapitel 40: Vorurteile

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Wir kamen zu einer alten, kleinen Wohnung in einem verlassenen Teil des Viertels. Noah schlang einen Arm um mich und klingelte. Nach wenigen Sekunden öffnete jemand die Tür. Der Junge war schätzungsweise etwas älter als wir. Er war breit und hatte kurze Haare. Der Ring in seiner Nase machte den bulligen Look perfekt. Das breite Grisen, welches auf seinem Gesicht erschien als er uns erblickte, passte so gar nicht zu seinem ansonsten unsympathischen Aussehen.
"Was machst du denn hier, Alter?", fragte er Noah und begrüßte ihn mit Handschlag. Da Noah sich ebenfalls zu freuen schien, seinen Kumpel wiederzusehen, sah ich über dessen Ausdrucksweise hinweg. Worte wie Alter machten mich wahnsinnig.
Bryan stellte sich mir höflich vor und bat uns in die Wohnung, doch ich hatte noch immer ein ungutes Gefühl, die Nacht hier zu verbringen. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als ihm und Noah in die Wohnung zu folgen.

Die Wohnung war klein, aber zu meiner Überraschung relativ ordentlich. Es war sauber und aufgeräumt, einzig der penetrante Geruch nach Nikotin störte. Während ich die Wohnung betrachtete, erklärte Noah Bryan unser Anliegen, bei ihm zu übernachten. Bryan stimmte zu und zeigte uns das Zimmer, in dem wir schlafen konnten. Da ich geschafft von der Anreise war, wollte ich nicht mehr lange aufbleiben. Außerdem war mir Noahs Kumpel nicht ganz geheuer. Die Tiefkühlpizza, sie Bryan mir anbot, lehnte ich ab. Noah blieb noch eine ganze bei Bryan, während ich mich ins Zimmer verzog. Doch zu viele Gedanken kreisten mir im Kopf herum und raubten mir den Schlaf. Irgendwann kam Noah zu mir ins Bett, und ich schloss die Augen und stellte mich schlafend. Schon hörte spürte ich Noahs gleichmäßige Atemzüge und spürte das regelmäßige Heben und Senken seiner Brust neben mir. Doch ich konnte noch immer keinen Schlaf finden. Ich wälzte mich von der einen auf die andere Seite, und irgendwann stand ich auf und suchte etwas zu Trinken für meinen trockenen Hals. Leise tapste ich Richtung Kühlschrank. Im Dunkeln hatte ich Mühe, den Weg zu finden. Als ich schließlich beim Kühlschrank ankam, fragte wie aus dem Nichts eine leise Stimme hinter mir: "Suchst du etwas?"
Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Das Herz schlug mir durch den Schrecken bis zum Hals. Bryan stand dicht vor mir und grinste mich an.
"Ich.. äh.. suche etwas zu trinken", stammelte ich und scheiterte kläglich  an dem Versuch, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Als er weitersprach, spürte ich seinen nikotinhaltigen Atem auf meine Haut und machte einen vorsichtigen Schritt zurück. Ich stand nun mit dem Rücken am Kühlschrank und hatte keine weitere Fluchtmöglichkeit.
"Möchtest du vielleicht mit mir..", begann er, und bevor er zuende sprechen konnte nahm ich all meinen Mut zusammen und platzte heraus: "Nein, möchte ich nicht, du Schwein!"
Selbst im dämmrigen Licht konnte ich erkennen, wie er mich irritiert anschaute. Dann schien er zu begreifen und lachte laut los.
"Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du einen Tee mit mir trinken möchtest. Weil du ja anscheinend durst hast", sagte er, während er erfolglos versuchte, sich von seinem Lachanfall zu erholen. "Was dachtest du denn?"
"Oh", sagte ich und spürte, wie ich rot anlief. Ich blickte beschämt zu Boden. Sein Tonfall und seine Mimik verrieten, dass er die Wahrheit sagte. "Keine Ahnung, was ich dachte", murmelte ich.
"Also? Was ist mit dem Tee?", fragte er schief grinsend. Schließlich musste auch ich lachen. "Gern", sagte ich.

Ich setzte mich an den Tisch, während Bryan Tee machte. "Noah hat es mir eben erzählt", berichtete Bryan. "Von dem Krebs." Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, wartete ich, dass er weiter sprach. "Das ist wirklich scheiße. Ich weiß, wie du dich fühlen musst." Ich konnte mir eine sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.
"Ach wirklich? Ist die Liebe deines Lebens auch an Krebs gestorben?"
Normalerweise verhielt ich mich nicht so unhöflich, erst recht nicht Fremden gegenüber, doch ich war das geheuchelte Verständis meiner Mitmenschen leid.
"Nicht ganz", erwiderte Bryan. "Aber meine Schwester. Sie ist vor kurzem verstorben. Zwar nicht an Krebs, aber das macht es nicht minder schlimm."
"Das tut mir leid", flüsterte ich. "Was ist passiert?"
"Sie hat sich umgebracht. Nachdem sie von einer Gruppe Jungs fast vergewaltigt worden ist. Und jetzt setze ich alles daran, ihnen das Leben zur Hölle zu machen."
Ich schlug mir die Hand vor den Mund. "Oh Gott, das ist ja schrecklich!"
"Ist es", bestätigte er. Sein Blick fiel hinter mich. "Ich glaube, du solltest wieder ins Zimmer gehen, da macht sich jemand Sorgen." Ich drehte mich um und sah Noah verschlafen in der Tür stehen. Es sah wirklich süß aus. "Danke für den Tee", sagte ich zu Bryan und stand auf. Ich ergriff Noahs Hand und führte ihn zurück ins Zimmer.
"Was ist los?", wollte er wissen.
"Ich konnte nicht schlafen", erklärte ich wahrheitsgemäß. "Zu viele  Gedanken." Noah sah mich sorgenvoll an und nickte. Wir legten uns zurück ins Bett und Noah schlang seine Arme um mich. Ich schmiegte mich an ihn und stellte besorgt fest, dass er abgenommen hatte. Währenddessen kreisten meine Gedanken um Bryan. Das hatte Noah also mit schlimme Taten gemeint. Doch was auch immer er den Angreifern seiner Schwester angetan hatte, in meinen Augen hatten sie es verdient. Mal wieder hatte ich vorschnell geurteilt. Aus Erzählungen heraus und aufgrund von Bryans Aussehen war ich sofort von Gefahr ausgegangen. Dabei wusste ich tief in meinem inneren, dass Noah mich nie in gefährliche Situationen bringen würde. Konnte ich diese Vorurteile denn nie ablegen? Ich schämte mich für mein Misstrauen und meine Voreingenommenheit. Ich nahm mir vor, mir zukünftig zuerst selbst ein Bild zu machen, bevor ich Klischees glauben schenkte und vorschnell urteilte.

Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt