Kapitel 52: Pläne

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Noah sagte lange nichts. Ich hörte nur seine gleichmäßigen Atemzüge durchs Telefon. Zu gerne hätte ich gewusst, was er dachte, oder wenigstens seinen Gesichtsausdruck gesehen.
"Du sagst ja gar nichts", meinte ich schließlich unsicher. "Freust du dich denn nicht?"
"Doch, natürlich freue ich mich, Estelle. Aber... bist du dir sicher, dass du es auch willst? Ich meine, hast du es dir auch gut überlegt? So etwas kann man nicht einfach wieder rückgängig machen. Und es ist ja schon eine enorme Veränderung."
"Ich will mit dir zusammen sein, Noah", erwiderte ich. "Und ich glaube, dass ein Neustart in einer anderen Stadt oder gar einem anderen Land genau das Richtige ist. Du hattest recht - mich hält hier nichts mehr. Ich muss lernen, selbstständig zu werden. Mein eigenes Leben zu leben. Ich bin jetzt 19 Jahre alt, es wird Zeit, Verantwortung zu übernehmen und meinen Weg zu finden."
"Bist du dir ganz sicher?", fragte Noah zögernd. "Ich möchte dich zu nichts drängen."
"Ich war mir noch nie so sicher wie jetzt, Noah. Ich liebe dich."
"Ich liebe dich auch."

Und somit war die Entscheidung getroffen. Als meine Mutter feststellte, dass ich es ernst meinte, gab es noch die ein oder andere Diskussion, doch im Endeffekt denke ich, dass sie froh war, mich endlich aus dem Haus zu haben.

Noah und ich hatten den Plan, nach Kanada zu gehen. Der Vorteil war, dass dort sowohl Englisch als auch Französisch gesprochen wurde, zwei Sprachen, die wir beide beherrschten. Noahs Großtante lebte in einem Viertel in Kanada, in welchem französisch gesprochen wurde und würde uns vorübergehend bei sich wohnen lassen. Sie führte mit ihrem Lebensgefährten ein Unternehmen. Noah würde dort arbeiten können. Ich wollte mich an einer Ergotherapie Schule bewerben, um endlich meinen Traum zu verwirklichen. Zuerst einmal konnte ich von meinem Ersparten leben, eine nicht geringe Menge. Wir hatten alles genau geplant. Zu genau, vielleicht.

Einen Monat später war alles organisiert. Noah würde vorreisen, und ich würde zwei Wochen später nachkommen. Zuerst musste ich noch ein paar Dinge hier zu Hause regeln. Am Tag vor Noahs Abreise besuchte ich Lola.
"Ich kann kaum glauben, dass du in zwei Wochen nicht mehr da bist. Oh Süße, ich werde dich so vermissen!" Lola fiel mir um den Hals und ich sah Tränen in ihren Augen schimmern.
"Ich werde dich auch vermissen, Lola", flüsterte ich.

Anschließend ging ich zu Noah. Seine kleine Wohnung war voller Umzugskartons. Er zog mich zur Begrüßung in seine Arme.
"Ich freue mich so", flüsterte er.
"Ich freue mich auch, Noah."
Den restlichen Nachmittag half ich Noah fertig zu packen. Dabei fanden wir unzählige, alte, schon fast vergessene Dinge. Neben alten Bildern von Noah und Lilly, als sie noch Kinder waren und einem Bild von Noah und seiner Adoptivmutter Isabelle - ein sehr schönes Bild - fanden wir alte Kasetten, CDs und Karten. Verborgen unter einigen Kleidungsstücken entdeckte ich ein kleines Foto. Ich sah es mir genauer an, es zeigte Noah. Er musste dort um die 16 Jahre gewesen sein und hatte lange, wilde Haare. In seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette, ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen. Noah trug eine abgetragene, dunkle Lederjacke und enge Jeans und sah damit draufgängerisch, aber auch irgendwie süß aus.
Noah trat hinter mich und stöhnte auf.
"Oh gott, gib das her. Erinnere mich nicht an die Zeit."
"Wieso? Ich finde das Bild süß", sagte ich lächelnd.
"Schau doch mal, für wie wichtig ich mich da genommen habe. Ich hielt mich für ganz cool, mit der viel zu großen Lederjacke und der Zigarette." Er versuchte, mir das Bild wegzunehmen, doch ich hielt es hinter meinen Rücken.
"Ich mag das Bild", wandte ich ein. "Darf ich es behalten?"
Noah schien überrascht von der Frage.
"Möchtest du denn?"
"Natürlich, sonst hätte ich nicht gefragt."
"Ja, klar kannst du es behalten", sagte er, noch immer verdutzt.
Schnell steckte ich es in meine Tasche.

Wir gingen früh zu Bett, da Noahs Flug am nächsten Tag um 7 Uhr morgens ging. "Danke, dass du mich begleitest. Wir werden eine so wunderbare Zeit haben", flüstere Noah mir ins Ohr.
"Ich hoffe es..", flüsterte ich, bevor meine Augenlider schwer wurden und ich in einen traumlosen Schlaf fiel.

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Noah & Estelle - Jede Sekunde zähltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt