Kapitel 12 - Jessica und Harry - Sechs

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Gedankenverloren und fantasierend schmachte ich Brandon während des Englischkurses an. Ich liebe es, wie seine blonden Locken sein Gesicht umspielen und seinen weichen Gesichtszügen etwas Verspieltes geben. Leide sitze ich schräg hinter ihm, weswegen ich seine wunderbar braunen Augen nicht betrachten kann, aber ich bin mir sicher, sie glänzen, wie jeden Tag. Ich liebe es sogar, wie lässig er in diesem Stuhl sitzt und es interessiert mich auch null, dass er dem Unterricht nicht zuhört, sondern an seinem Handy rumtippt, was eigentlich verboten ist. Er ist solch ein Rebell, das liebe ich.

Ich seufze, während das Ende meines Bleistiftes mit meinen Zähnen bearbeitet wird.

Jeden Tag sehe ich ihn und jeden Tag wünsche ich mir, er wäre mein Angebeteter. Rein theoretisch ist er ja mein Angebeteter, denn ich himmle ich ständig nur, allerdings bin ich nicht seine Angebetete. Traurig, ich weiß, aber so ist das nun mal schon seit zwei Jahren. Jedoch habe ich in den zwei Jahren auch nicht mehr als ein Hey, was geht? Oder ein Brandon, ich weiße Violet, nicht Vivien mit ihm ausgetauscht. Das reicht vollkommen. Ich kann ihn immer noch durchgehend im Unterricht beobachten, also verkümmere ich noch nicht. Ich habe mich schon längst damit abgefunden, dass ich für ihn nur Luft mit Kniestrümpfen bin und er für mich mein persönlicher Sexgott Schrägstrich Adonis mit einem Adoniskörper und Adonishaaren.

„Miss Berrymore!"

Ich schrecke sofort auf und der Bleistift fällt mir aus der Hand, direkt auf meinen Schultisch.

Die ganze Klasse starrt mich an, genauso wie Mister Smith, unser Englischlehrer.

„Dürften wir erfahren, wo Sie gerade waren?", fragt Mister Smith mich verärgert und schiebt seine Lesebrille höher auf seine Nase.

„Äh", stammle ich und setze mich gerader hin. „Ich war gerade bei ... Bei Goethe?"

„Bei Goethe also. Was haben Sie denn mit ihm angerichtet, hm?"

Ich überlege schwer. Verdammt, was hatten wir als letztes in diesen Kurs durchgenommen?

„Ich habe mit ihm ein paar seiner alten Gedichte besprochen!", fällt mir ein.

Mister Smith schüttelt abwegig den Kopf. „Miss Berrymore, ich leite diesen Kurs nicht, damit sie andere Männer betrachten können. Konzentrieren Sie sich auf meinen Unterricht oder verlassen sie mein Klassenzimmer."

Sofor werde ich knallrot. Mister Smith hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wie kann er mich nur so bloßstellen? Sogar Brandon lacht mit der ganzen Klasse über mich, obwohl er wahrscheinlich nicht mal weiß, dass er derjenige war, der von mir begafft wurde.

Hinter mir höre ich Jessica lachen, gemischt mit Harrys leiser rauen Lache. Zur Hölle mit ihnen.

„Aber ich habe aufgepasst!", versuche ich mich aus der peinlichen Situation zu retten. „Wir haben über ein Gedicht von Goethe gesprochen!"

Mister Smith seufzt und dreht sich wieder zur Tafel, um etwas anzuschreiben. „Wie schön, Sie haben halbherzig zugehört. Lassen Sie mich meinen Unterricht weiterführen, ich werde Ihnen später die sechs eintragen."

Ich reiße die Augen auf. Oh, Gott, das wird ja immer schlimmer. Eine Blamage vor meinem Schwarm und dann noch eine sechs?

„So was von verdient", tuschelt Jessica hinter mir und sofort will ich mich umdrehen, um ihr ins Gesicht zu schreien.

Doch stattdessen sage ich zu Mister Smith: „Sie können mir doch keine sechs geben, Mister Smith. Nur weil ich einmal nicht aufgepasst habe!"

Wieder seufzt Mister Smith und dreht sich zu mir. „Mein Unterricht ist nicht zum Träumen da, sondern zum Lernen und Denken. Passen Sie auf, ist alles gut, aber Sie waren nicht hier und Sie waren auch nicht bei Goethe, also haben Sie die sechs verdient."

Nervös umfasse ich meinen Bleistift. Gott, wie streng kann ein Lehrer nur sein? „Mister Smith, ich bitte Sie ..."

„Man, sieh es doch einfach ein!", blökt jetzt Jessica hinter mir. „Du begaffst Brandon, also musst du auch dran glauben, Loser!"

Ist es möglich noch röter zu werden als rot? Wie kann sie es wagen begaffen und Brandon in einem Satz zu verwenden, um mich bloßzustellen? Sicherheitshalber sehe ich zu Brandon, um herauszufinden, ob er das mitbekommen hat. Er scheint nicht zuzuhören, was mich aufatmen lässt.

„Jessica, kümmere dich lieber um deinen Lippenstift", meckert Charly am Tisch neben mir nach hinten. „Harry scheint die Hälfte in seinem Gesicht zu haben."

Wieder lacht die Klasse. Aber ich nicht. Ich lache nie, wann Harry lacht, denn er tut es gerade. Als wäre es so supertoll Lippenstift von Jessica in Gesicht zu haben. Das ist widerlich. Da kannst du auch einen Drogeriemarkt knutschen.

„Ruhe!", ruft Mister Smith, als die Klasse unruhiger wird. Er wendet sich an mich. „Sag mir Wärst du da von Goethe auf und die sechs ist vergessen. Bei dieser Unruhe kann ich keinen Unterricht machen."

Ich atme durch. Wärst du da von Goethe. Ich krame tief in meinen Erinnerungen nach diesem Gedicht, blättere gedanklich ein paar Poesiealben durch und finde dann schließlich das, was ich brauche. Zum Glück liebe ich Goethe, weswegen die sechs gleich schnell vergessen sein wird.

Die ganze Klasse schweigt, derweil Mister Smith mich abwartend anstarrt.

„Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt", beginne ich das Gedicht und kneife währenddessen die Augen zu, damit ich mich besser konzentrieren kann. „Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer in Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Weg der Staub sich hebt; In tiefer Nacht, ... wenn auf dem schmalen Stege der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfen Rauschen die Welle steigt. Im stillen Hain, da gehe ich oft lauschen, wenn alles schweigt.

Ich –''

„Langweilig", unterbricht Jessica meine Konzentration und sofort bin ich aus dem Gedicht draußen.

Verdammt, ich hatte es fast.

„Misses Hastings", meckert Smith sie an. „Wollen Sie die nächste sechs?"

Sie schnaubt. „Das macht auch keinen Unterschied mehr. Außerdem habe ich nur meine Meinung gesagt. Violet trägt es vor wie eine weinerliche Schlafmütze."

Wieder lacht die Klasse. Harry mit eingeschlossen. Sogar Brandon lacht!

Ich will im Erdboden versinken. Die sechs werde ich wohl behalten müssen.

„Was gibt es da zu lachen, Mister Styles?", meckert nun Smith zu Harry, der neben Jessica sitzt.

„Ich habe nicht gelacht", erwidert er lässig.

„Spielen Sie sich nicht so auf oder Sie bekommen noch eine sechs. Los, vollenden Sie das Gedicht."

Harry stöhnt auf. „Wir wissen beide, dass ich es nicht kann, also geben Sie mir schon die sechs."

Smith haut mit der flachen Hand auf das Pult, über das er sich stützt. „Los, vollenden Sie das Gedicht!"

„Ich. Kann. Es. Nicht!"

Jetzt kneift Smith die Augen zusammen und mustert Harry skeptisch. Doch schließlich stützt er sich wieder auf und wendet sich zur Tafel. „Jessica und Harry – Sechs. Miss Berrymore, Sie haben noch Glück gehabt."

Ich atme auf. Danke, du strengster Lehrer der Welt. Zwar sorgt die Sache mit Brandon noch immer für einen roten Kopf meinerseits, aber das ist mittlerweile Nebensache. Eine sechs kann ich mir wirklich nicht leisten.

„Danke, Loser", zischt mir Jessica von hinten zu und tritt gegen meinen Stuhl, worauf ich sie jedoch ignoriere. „Wie konntest du nur mit der da befreundet sein?"

Es ist offensichtlich, dass sie mit Harry redet.

Harry atmet nur tief durch und antwortet gleichgültig: „Keine Ahnung, nerv mich nicht wieder mit der Scheiße."

Leicht grinse ich in mich hinein. Aber nur weil Jessica eingeschnappt mit der Zunge schnalzt, denn so ein kleiner Korb von Harry kann Wunder bewirken. Ich liebe es, wenn sie sich aufregt.

Violet Socks I HSWhere stories live. Discover now