Kapitel 4 - Borrymore

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„Eins ... Zwei ..." Ich zähle die Kopien für den Theaterkurs ab, auf dem meine selbstgeschriebenen Dialoge stehen und eile derweil schnell zur Theaterhalle. „Drei, vier, fünf, ..." Schnell weiche ich einer Gruppe an Schülern aus, die mir im Schulflur entgegenkommen und lasse beinahe meinen Ordner, der unter meinem Arm klemmt, fallen, doch kann ihn noch schnell auffangen. Ich schultere meine Tasche erneut und steuere wieder in die richtige Richtung, während ich nochmal von vorne anfangen muss meine Blätter laut zu zählen.

„Dreizehn", sage ich schließlich seufzend, als ich genau vor der Tür des richtigen Raums stehe und greife nach dem Türgriff. Ich will sie öffnen, doch-

Kurzerhand werden mir die Blätter aus der Hand gerissen und achtlos zu Boden geschmissen.

„Ups", macht Jessica unschuldig, als sie sich die Hand vor den Mund hält und die Blätter auf dem Boden sieht. „Das wollte ich nicht."

Neben ihr Melissa, aber auch bekannt als Die Braue. Ihre Augenbrauen sind nämlich mit Permanent- Make-Up verschönert worden, jedoch viel zu weit oben und viel zu dunkel für ihre Haut und Haare. Es sieht grausam aus und lässt sie immer wie ein geschocktes Reh wirken, doch zu schämen scheint sie sich nicht deswegen.

Sofort ist meine Laune wieder auf dem Nullpunkt, als ich mich bücke, um die Blätter aufzuheben. „Hast du nichts Produktiveres zu tun?"

„Nein, warte, ich helfe dir", sagt Jessica gespielt freundlich und bückt sich mit mir zu den Blättern, hilft mir sie einzusammeln. „Das war doch nur ein Versehen."

„Ein Versehen", wiederhole ich spottend, als sie mir ein paar Blätter reicht und ich sie staple. „Selbst dir habe ich eine primitivere Ausrede zugetraut."

Sie kneift die Augen zusammen, als wir wieder stehen und ich meine Blätter mürrisch sortiere. „Sei mal nicht so frech, Berry-Loser. Ich kann dir gerne deine verdammten Strümpfe mit dem Faden, der die da am Saum hängt, auffädeln, wenn du willst."

Ich runzle die Stirn. Was redet sie denn jetzt wieder für seltsames Zeug?

Und noch bevor ich mehr über ihre Worte nachdenken kann, um ihr auf die Schliche zu kommen, grinst sie dreckig und verschränkt die Arme. „Oh, Moment mal. Das tue ich ja schon."

Als ich ein leichtes Ziehen an meinem linken Bein spüre, blicke ich hinab. Und muss leider feststellen, dass das Ziehen nicht von einem Muskelkater, sondern von einem Faden kommt, der gerade dabei ist, meinen schwarzen Strumpf von oben an aufzureißen.

Entsetzt drehe ich mich um, damit ich rausfinden kann, wer sich den Faden geschnappt hat, damit mein Socke immer kleiner wird. Melissa läuft schnell und lachend mit dem schwarzen Faden in der Hand den Gang entlang.

„Hey!", rufe ich ihr hinterher und lasse meine Tasche einfach zu Boden fallen. Schnell schnappe ich mir den Faden und will daran ziehen, damit sie loslässt, doch mir bleibt nichts anderes übrig, als die Reste wie ein Kabel aufzusammeln, denn mittlerweile hat mein Socke nur noch die Hälfte an Maschen. Melissa ist unberechenbar.

„Verdammte Scheiße", fluche ich vor mich hin, als Melissa um meine Ecke verschwindet und ich ihr schnell hinterher will. Mein Strumpf wird immer kürzer und so langsam wird der Knoll an Faden in meinen Händen immer größer, umso mehr Stoff sie zieht.

Ich bin froh, dass nur wenige Schüler in den Fluren sind, weswegen diese Nummer weniger unangenehm für mich ist. Natürlich werde ich ausgelacht, während ich eilig einem Stück Faden folge, doch das interessiert mich gerade nicht. Helfen tut mir selbstverständlich auch niemand, warum auch? Ist doch durchaus amüsant die ganze Szene. Zumindest als Beobachter.

Ich jogge gerade wieder um die nächste Ecke und will Melissa zuschreien, dass sie gefälligst stehen bleiben soll, doch noch bevor ich überhaupt in den nächsten Gang komme, knalle ich unsanft gegen etwas Hartes.

Sofort fliege ich zu Boden, genauso wie meine dreizehn Blätter, die wiederholt dreckig werden und sich im ganzen Flur verteilen.

„Autsch", brumme ich und reibe mir den Kopf, weil ich ihn mir gestoßen habe. Der Faden wird immer weiter gezogen und die Hoffnung, dass dieser Strumpf noch auf irgendeine Art und Weise zu retten ist, ist auch schon verloren.

Die Person, gegen die ich gestoßen bin, dreht sich zu mir um, sieht erst über mich hinweg, dann erst zu mir herab. Meine Augen treffen Harrys und ich habe das Gefühl, dass mein Tag kaum noch schlimmer werden kann. Hätte ich nicht gegen Mister Miller laufen können? Er hätte mich hier nach sofort nach Hause geschickt, weil er Angst hätte, ich hätte mir etwas gebrochen.

„Pass das nächste Mal auf, wo du hinläufst", spricht Harry mir zu und dreht sich dann wieder desinteressiert zu seinen Freunden, die vor ihm stehen. Zweifellos wird er mir nicht hochhelfen oder sich erkundigen, ob ich mir wehgetan habe, aber das erwarte ich auch nicht. So ist Harry nun mal nicht.

„Du mich auch, Idiot", rede ich vor mich hin und in der nächsten Sekunde ist das letzte Stück Faden von meinem Strumpf entfernt und mein linkes Bein ist, bis auf das Stück in meinen Schuhen, komplett nackt. Gott, bin ich irgendwie verdammt? Muss mir so was auch noch direkt in Harrys Gegenwart passieren?

Seufzend rapple ich mich auf und beginne genervt die Blätter vom Theaterkurs einzusammeln. Mittlerweile sind mehrere Fußspuren darauf zu erkennen, denn niemanden scheint es zu interessieren, dass diese Papiere eventuell wichtig sein könnten.

„Was soll das sein?", fragt Chris, der bei Harry steht und hebt einen Zettel vom Boden auf, um darauf zu sehen. „Henriette & Victor", liest er vor und verzieht das Gesicht. „Bullshit."

„Natürlich ist das für dich Bullshit", rufe ich ihm zu und sammle den vorletzten Zettel vom Boden auf. „Von Lyrik verstehst du nichts."

„Ach ja?", blökt er und zerknüllt kurzerhand den Zettel. „Hier, versteh die Scheiße, Borrymore." Er zerreißt den Zettel noch zweimal und dann werden mir die Schnipsel vor die Füße gepfeffert. „Da hast du deine Lyrik."

Ich balle die Fäuste, als ich auf den zerkleinerten Zettel vor meinen Füßen sehe und starre dann Chris an, der lässig mit verschränkten Armen am Schließfach steht und mich gehässig auslacht. „Zufällig habe ich das noch gebraucht und zufällig spricht man meinen Namen Berrymore aus und nicht Borrymore!"

„Da ist wohl jemand empfindlich", feixt Liam, ein weiterer Idiot von Harrys Freunden. „Stell dich nicht so an, niemanden interessiert deine Scheiße."

„Noch dazu fehlt dir da ein Socke", sagt Chris wieder und zeigt schief grinsend auf mein nacktes Bein. „Hat das Geld nicht für zwei gereicht?"

„Sei bloß still", fauche ich ihn an. „Oder hat das Geld nicht für ein Hirn gereicht?"

Chris guckt jetzt weniger belustigt und stößt sich von dem Schließfach ab. „Halte die Klappe, Borrymore oder-''

„Berrymore", korrigiere ich ihn.

Noch wütender presst er den Kiefer aufeinander. Er schweigt kurz und scheint mich mit seinem Blick töten zu wollen und im nächsten Moment reißt er mir die Blätter aus der Hand und zerreißt sie in einem Schwung.

Entsetzt sehe ich zu, wie er die geteilten Papiere durch den Flur schmeißt.

„Hier!", ruft Chris böse. „Ich scheiß auf deinen Namen, Loser!"

Die Jungs in der Runde lachen und ich filtere Harrys leises Lachen heraus, als das Blut in mir noch mehr kocht. Wie respektlos kann man sein? Ich habe echt Nächte mit diesen Dialogen verbracht und Chris erlaubt sich einfach, sie zu zerreißen?

„Alter", flüstert jetzt ein weiterer Kerl aus der Gruppe und haut Chris auf die Brust. Er nickt hinter uns, wo uns Misses Heath, die Schuldirektorin entgegenkommt und absolut nicht glücklich darüber aussieht wie es hier im Flur zugeht.

„Scheiße", flucht Chris und sieht mich ein letztes Mal böse an.

Und dann machen sie sich schnell auf den Weg, um die nächste Ecke, während Misses Heath uns immer näher kommt.

Auch Harry will einen Abgang machen, doch Misses Heath ruft mit schriller Stimme: „Stehen geblieben, Mister Styles!"

Violet Socks I HSWhere stories live. Discover now