Kapitel 7 - Gerade mal fünf Minuten

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Alle nicken einverstanden und machen sich wieder an ihre Arbeit. Ich deute Harry, dass er mir folgen soll und dann kommt er auch schon zu mir. Ich laufe mit ihm hinter die Bühne, wo die ganzen Dekorationen für die Auftritte stehen, zum Beispiel Bäume aus Pappe oder Steine.

„Unsere Hintergründe sind meistens sehr eintönig", erkläre ich und laufe bis zum Ende der Requisiten. „Also so viel Arbeit hast du theoretisch nicht. Auch wenn ich es dir wirklich gegönnt hätte, mal ganz nebenbei."

Harry verdreht hinter mir die Augen, während er mir folgt.

Ich bleibe vor zwei Bäumen stehen. „Eigentlich kannst du die gleich mal auf die Bühne schleppen und ich zeige dir, wie du sie anordnest, damit du alles richtig machst."

Man sieht ihm an, wie es ihm widerstrebt, nach dem Baum zu greifen und ihn zur Bühne zu tragen. „Ich tue das nur, weil ich es muss", raunt er, als er zur Bühne läuft mit dem Baum im Arm.

Ich winke ab und stelle mich inmitten der Bühne. „Jaja, mir egal, tu's einfach. Also ..." Ich zeige auf die Stelle, auf der der Baum immer steht. „Da muss er hin. Und die Blätter müssen zum Publikum zeigen, nur damit du ihn nicht falschherum aufstellst. Eine braune Pappe will ja niemand sehen."

Harry presst gestresst von mir die Kiefer aufeinander und stellt den Baum unsanft auf den Fleck, den ich ihm gezeigt habe.

Gespielt nachdenklich reibe ich mir das Kinn. Das Gute an der Sache ist, dass ich ihm jeden Befehl geben kann und er muss ihn ausführen, weil ich mir sicher bin, dass er nicht von der Schule fliegen will. Und das nutze ich so was von aus.

„Was ist?", fragt Harry mich nach einer Weile, in der ich skeptisch den Baum betrachte.

Ich zeige auf die andere Ecke der Bühne. „Stell ihn mal hier hin. Ich glaube, das Licht ist hier besser."

Genervt stöhnt er auf und stellt den Baum in die andere Ecke. Er richtet sich wieder auf und sieht mich erwartungsvoll und gleichzeitig warnend an.

Wieder reibe ich mir das Kinn. „Hm ... Komisch. Irgendwas stimmt heute nicht. Das sieht immer noch so falsch aus. Stell ihn mal dort hin." Ich zeige in die andere Ecke der Bühne.

Wieder greift Harry sich den Baum und stellt ihn diesmal in die andere Ecke. Ich kann schwören, dass uns der halbe Kurs zuguckt, doch das scheint keiner von uns beiden richtig zu merken.

Jetzt zufrieden?", fragt Harry zischend, als er den Baum abstellt.

Ich nicke schmunzelnd. „Ja, diesmal ist wirklich alles okay. So steht er perfekt."

„Ist auch besser so", höre ich ihn vor sich hinknurren und er will gerade wieder hinter die Bühne, als ich ihn aufhalte.

„Oder warte mal! Ich glaube, der Baum steht noch immer nicht ganz richtig. Mir fällt gerade auf, dass manche Schauspieler gestört werden könnten, wenn der Baum ganz vorne steht. Stell ihn bitte hinten links hin."

Ich grinse, als Harry mit geballten Fäusten zu dem Baum geht, ihn sich aggressiv schnappt, dann nach hinten links in die Ecke der Bühne läuft und ihn unsanft auf den Boden fallen lässt. Er stellt sich daneben und verschränkt sauer die Arme. „Und stört noch was? Zieht es hier hinten zu viel oder ist der Winkel zu schief? Vielleicht könnte ja ein Erdbeben einsetzen und weil hier der Boden am unebensten ist, würde der Baum sofort umfallen und das Stück ruinieren. Also. Sag schon!"

Beinahe muss ich auflachen, weil er mich so amüsiert. Ich mag es, endlich mal die Zügel in der Hand zu haben und ihn herumzukommandieren. Er hat in den letzten Jahren nichts anderes getan, außer mich zu ignorieren oder über die dummen Sprüche der anderen zu lachen, also kann ich jetzt auch mal gemein sein. Das hat er einfach verdient. Außerdem fand ich es damals, als wir Kinder waren schon immer witzig, wie er beleidigt die Arme verschränkt hat, mit dem rechten Fuß aufstampfte und dann meckerte. Heute tut er genau das Gleiche, nur ist er jetzt jemand anders.

Violet Socks I HSOnde histórias criam vida. Descubra agora