Kapitel 107. Gegenseitig reingelegt

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Ora ging eine Weile durch den Wald.
Es war still in diesen Monaten.
Nur ein paar Vögel gaben hier und da einen Ton von sich.
Die Bäume tratschten leise über alles mögliche.
"Hey, habt ihr vielleicht etwas zu tun für mich?", fragte das Mädchen.
"Wir, Herrin?", fragte eines der Gewächse, "Was könnten wir für euch zu tun haben?"
"Keine Ahnung, irgendwas!", sagte der Drache, "Meine Freundin hat mich rausgeschmissen und ich weiß nicht, was ich den ganzen Tag machen soll!"
"Das ist hart!", sagte der Baum, "Wir können aber leider nicht helfen! Fragt doch euren Seelenbaum!"
"Der steht in London!", sagte die Königin.
"Oh nein, er ist hier!", sagte die Pflanze, "Er ist immer dort, wo ihr seid!"
"Tatsächlich?", fragte die Drachin, "Warum hat er mich dann nicht einmal geholt?"
"Warum sollte er?", fragte das Gewächs, "Es gab wohl keinen Grund, euch zu rufen! Geht zu ihm, er wird sich freuen! Ihr müsst nur eurem Herz folgen!"
"Ok... danke!", sagte Ora.
Sie ging weiter.
"Meinem Herz folgen?", fragte sie sich, "Wie denn das?"
Sie konzentrierte sich auf ihren Herzschlag.
Er war gewohnt ruhig.
Sie ging weiter, doch plötzlich spürte sie, wie ihr Herz unruhiger wurde.
Sie stockte und blieb stehen.
Was bedeutete das?
Sie drehte sich um.
Es schlug ruhiger, kaum dass sie in die andere Richtung sah.
Sie verstand.
Also ging sie weiter in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Bald kam sie an eine Lichtung, auf der ein wunderschöner Baum auf einer ebenso grünen Wiese stand.
"Ist das nicht ein wenig auffällig im Winter?", fragte sie.
"Du bist die einzige, die mich so sehen kann, mein Kind!", hörte sie eine Frauenstimme in ihrem Kopf sagen, "Alle anderen sehen nur einen kahlen Baum auf einer verschneiten Lichtung!"
Das Mädchen runzelte die Stirn.
"Du... du bist nicht der selbe, wie in London!", sagte sie, "Du bist weiblich!"
"Das hast du gut erkannt!", sagte der Baum, "Er war Floras Wegleiter! Er ist mit ihr in den Tod gegangen! Ich werde dasselbe für dich sein! Er hat dich nur so lange unterstützt, wie seine Kräfte ihm noch erlaubt haben!"
"Und... du hilfst mir jetzt weiter, meinen Weg zu finden?", fragte der Drache.
"Wenn du dabei Hilfe brauchst!", sagte die Pflanze, "Komm näher, damit ich dich ansehen kann!"
Die Königin trat weiter auf die Lichtung.
Um sie herum stiegen Wurzeln aus dem Boden.
Eine von ihnen schlang sich sanft um ihre Taille.
"Was wird das?", fragte sie.
"Ich möchte ein Wenig über dich herausfinden!", sagte das Gewächs, "Halt still!"
Sie tastete ihren Bauch ab.
"Glückliche junge Mutter, wie schön!", sagte sie, "Du bist ein sehr gesundes Mädchen! Und wie ich sehe, bist du immer gut gesättigt!"
"Was interessiert dich an meinem Essverhalten?", fragte die Drachin.
"Ich möchte doch wissen, ob es meinem Schützling gut geht!", sagte der Baum.
Sie schlang ihre Wurzel weiter nach oben.
"Du hast ein gutes Herz für ein schon so altes Wesen!", sagte sie, "Die meisten tragen in diesem Alter bereits die ein oder andere Schuld in der Seele! Ich verstehe, warum ausgerechnet du als Hüterin des grünen Steins gewählt wurdest!"
"... ich habe doch garkeinen Stein!", sagte Ora.
"Der Stein liegt in deinem Herzen begraben!", sagte die Pflanze, "Und dort ist er so sicher, wie er an keinem anderen Platz dieser Welt sein könnte!"
Sie kraulte das Mädchen unter dem Kinn.
Diese schnurrte.
"Was soll das heißen...?", fragte sie.
"Du weißt, dass du ein besonderes Wesen bist!", sagte das Gewächs, "Nicht jeder deiner Art wird ohne Anstrengungen so stark!"
"Reib es mir nicht noch unter die Nase!", sagte der Drache, "Alles, was immer alle über mich sagen, ist wie stark und schön ich doch bin! Langsam geht es mir auf die Nerven!"
"Was sollen sie denn Anderes sagen, wenn du ihnen das Wesentliche verschweigst?", fragte der Baum, "Sie können nur sagen, was sie auch wissen!"
Die Königin seufzte.
"Das ist auch wieder wahr!", sagte sie.
"Mach es dir gemütlich!", sagte die Pflanze.
Sie schlang ihre Wurzeln um ihre Oberschenkel und hob sie hoch.
"Das ist ja sehr nett, aber... ich hatte eigentlich nicht vor, lange hierzubleiben!", sagte die Drachin.
"Hast du etwas vor?", fragte das Gewächs.
"Hmm... nein, eigentlich nicht!", sagte Ora, "Ich war ursprünglich auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit!"
"Du suchst nach einem Zeitvertreib?", fragte der Baum, "Warum tust du nicht das, was du immer tust? In eine Stadt gehst du doch sonst auch immer!"
"Schon, aber ich weiß nichtmehr, welche!", sagte das Mädchen.
"Du gehst immer nach Norden!", sagte die Pflanze, "Such doch einmal im Süden! Du hast noch lange nicht alles gesehen!"
Sie ließ sie runter.
"Aber gehe in deiner wahren Haut dorthin!", sagte sie, "Dich von der Wahrheit zu verstecken kann dir nicht immer helfen! Am wenigsten dort, wo du hingehörst!"
"Ich... soll also im Wald bleiben?", fragte der Drache.
"Was du mit meinen Worten anfängst, musst du selbst herausfinden!", sagte das Gewächs, "Aber ich gebe dir etwas Hilfe auf den Weg! Schließe die Augen!"
Die Königin tat, was sie sagte, während die Wurzel sich ihrem Kopf näherte.
Sie spürte ein leichtes Kribbeln darin.
"Ich gebe dir nun die Kraft der Hellsicht!", sagte der Baum, "Sie soll dir helfen, dich selbst und alle anderen zu schützen! Trage diese Gabe mit Würde!"
Sie zog ihre Wurzel zurück.
Die Drachin öffnete die Augen.
"Hellsehen?", fragte sie, "Das... ist viel zu stark! Wie soll das funktionieren?"
"Mach dir darüber keine Gedanken!", sagte die Pflanze, "Du wirst vor einem schlechten Ereignis eine Vision bekommen! Aber Visionen können trügerisch sein! Sie zeigen dir nie alles! Um diese Kraft wirklich einzusetzen, musst du einen klaren Kopf bewahren und dich auf das konzentrieren, was dir in deiner Sicht für richtig erscheint!"
Ora schluckte.
"Wie sind die Hüter vor mir damit fertig geworden?", fragte sie.
"Sie mussten es nicht", sagte das Gewächs, "Diese Kräfte sind immer spezifisch für den jeweiligen bestimmt! Du bist die erste, der eine solch mächtige Gabe zugeteilt wurde!"
Das Mädchen stockte.
"Aber... warum ausgerechnet ich?", fragte sie.
"Seit Floras erstem Auftreten als Hüterin ist die Welt deutlich gefährlicher geworden!", sagte der Baum, "Diesmal musste das fünfte Element ein Wesen sein, das einen gewissen Schutz für alle Steine darstellen kann! Und du hast deine Prüfung bestanden! Du hast die anderen Hüter an den sichersten Ort dieser Welten gebracht!"
"... mein Schloss?", fragte der Drache, "Der sicherste Ort...?"
"Allerdings!", sagte die Pflanze, "Eure Welt ist versteckt und das Schloss ohne Instinkt keinesfalls findbar! Die Steine sind dort so sicher, wie sie es früher nie waren!"
"Dann ist es ja gut!", sagte die Königin und lächelte.
"Jetzt geh dahin und erkunde das Land!", sagte das Gewächs, "Und fürchte dich nicht, anderen dein wahres Gesicht zu zeigen! Irgendwann werden die Auswirkungen deiner Ehrlichkeit hilfreich sein!"
Die Drachin nickte.
Sie setzte die braune Perücke und ihre Maske auf und entfernte sich langsam.
"Ach, Ora!", sagte der Baum, "Warum nutzt du deine natürliche Schönheit nicht?"
"Wie...?", fragte Ora.
"Es ärgert dich doch, dass du auf männliche Wesen sehr anziehend wirkst!", sagte die Pflanze, "Aber warum nutzt du diese Eigenschaft nicht zu eigenen Zwecken!"
"Als ob jemand, der mich verletzen will, mich verschont weil ich schön bin!", sagte das Mädchen.
"In letzter Zeit möglicherweise schon!", sagte das Gewächs.
"Wieso?", fragte der Drache verwundert.
"In letzter Zeit suchen viele Menschen nach dir!", sagte der Baum, "Unter ihnen sicher auch Junge!"
"Wieso sollten es?", fragte die Königin, "Bisher hab ich nur von Tierschützern und Polizisten gehört!"
"Menschen sind naiv!", sagte die Pflanze, "Besonders junge!"
Die Drachin stockte.
"Ja, ok, aber...", fing sie an.
"Glaubst du nicht, dass es welche gibt, die sich mit euch anlegen wollen?", fragte das Gewächs, "Solche Probleme wären vielleicht besser friedlich zu lösen, meinst du nicht?"
Ora seufzte.
"Du hast ja recht!", sagte sie, "Wenn es so sein sollte, werde ich es eben so machen!"
"Ich bin sicher, du stehst zu deinem Wort!", sagte der Baum, "Dann geh jetzt!"
Das Mädchen nickte.
Sie drehte um und ging Richtung Süden.

Die Königin der DrachenWhere stories live. Discover now