Kapitel 8. Der Schülertausch

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Ora hatte sich inzwischen in das Stadtleben eingewöhnt.
Sie kam immer öfter in die Schule, obwohl es ihr nicht immer gefiel.
Im Geschichtsunterricht wusste sie schon alles, sie war ja schließlich bei einigem selbst dabei gewesen.
Sie lebte ein Doppelleben, halb als Drache, halb als Mensch.
Ihre menschliche Gestalt wurde immer glaubwürdiger, da sie Kleidung trug, welche die Schuppen am Rücken bedeckte.
Ihre Freundinnen hatten ihr bei der Wahl geholfen.
Für das Gesicht hatte sie sich eine Maske anfertigen lassen, welche ebenfalls die Schuppen und die Narbe abdecken sollte.
Viele Pariser erkannten sie kaum noch.
Die einzigen Merkmale waren ihre Prothesen und die Farben, die sie trug.
Auf die schlitzförmigen Pupillen achtete kaum jemand.
Und sie war die einzige in der Schule, die kein Smartphone besaß, doch das machte ihr nichts aus.
Sie war gerne anders.
Auch ihre Schwester war eines Tages in die Schule gekommen.
Sie hatte sich überreden lassen, auch schreiben zu lernen.
Das war eine große Überraschung für die Schüler, die bisher nicht gewusst hatten, dass Ora überhaupt eine Schwester hatte.

Seit einigen Wochen war die Aufregung im Schulhaus groß.
Es war zur Tradition geworden, dass die Pariser Schule mit einer aus der Nachbarstadt Orlèans Schüler tauschte, um einen freundschaftlichen Wettstreit zu veranstalten.
Das Thema des Wettstreits in diesem Jahr stand noch nicht fest, und alle warteten gespannt auf das Ergebnis der Abstimmung.

"Was glaubt ihr, was es dieses mal wird?", fragte Mae ihre Freunde.
"Hoffentlich nicht wieder irgendwas mit Kochen! Das letzte mal war eine totale Katastrophe!", sagte Joel.
"Vielleicht was mit Kunst?", meinte Aimee.
"Bitte nicht!", jammerte Lina, "Da können wir ja nur verlieren!"
"Was denkst du, Ora?", fragte Damien.
Ora lehnte an der Wand, ihre Augen geschlossen.
Sie meditierte.
Das tat sie öfter.
Nach ein paar Sekunden lächelte sie und sagte: "Nun, ich bin mir sicher, dass euch das gefällt!"
"Hast du gerade... Du weißt es?!", fragte Maelle.
Der Drache schmunzelte.
"Ihr werdet es heute noch erfahren!", sagte sie, "Und nicht von mir!"
Dann schloss sie die Augen wieder.
"Er ruft heute an?", fragte Lina.
"Anscheinend...", erwiederte Mae.
Der Schulleiter der anderen Schule, M. Roux rief immer per Videochat an, um das Ergebnis zu verkünden.
Er wollte den Schülern dafür direkt in die Augen sehen.
Genau dies tat er auch dieses mal.
Das Thema war, einen Film zu drehen.
"Möge die bessere Schule gewinnen!", sagte er und legte dann auf.
Genau wie Ora es gesagt hatte, waren die Schüler begeistert davon.
In ein paar Tagen sollten einige Lehrer, Schüler und der Schulleiter selbst zu Besuch kommen und würden die Schüler auswählen, die die Klassen für drei Wochen tauschen sollten.
Es waren immer fünf pro Klasse.
Die Altersgruppen waren getrennt, denn es war noch immer Schulstoff zu erledigen, den jüngere Schüler nicht verstehen würden.
Nach zwei Tagen standen plötzlich einige fremde Lehrkräfte mit ihren Schülern im Schulhof und begutachteten die Schüler.
Alle wollten nur die besten auswählen.

"Sagen sie, wo ist das nette, braunhaarige Mädchen, das ich letztens gesehen habe?", fragte Monsieur Roux.
"Wen meinen sie?", fragte der Pariser Schulleiter, Monsieur Bonnet.
"Das Mädchen... ich glaube sie trug eine pinke Uniform! Bei meinem Anruf stand sie da drüben!", sagte der Mann und zeigte zur Wand.
"Ach so, sie meinen Ora! Na, die ist da oben!", sagte M. Bonnet und zeigte auf das Schuldach.
"Witzig!", sagte Roux und lachte, "Und wo ist sie wirklich?"
Monsieur Bonnet atmete laut ein und aus und rief dann: "Hey Ora, komm doch mal!"
Diese kam hinter dem Schornstein hervor und setzte sich auf die Dachkante.
"Was gibt's?" fragte sie.
Dem fremden Mann blieb der Mund offen stehen, genau wie einigen Schülern und Lehrern aus seiner Schule, die das bemerkt hatten.
"Pass bloß auf!" sagte der Mann.
"Wieso?" fragte der Drache.
"Komm erstmal runter!", erwiederte ihr Schulleiter, "Ich habe keine Lust, so schreien zu müssen!"
"Na gut!", sagte das Mädchen, "Wenn es unbedingt sein muss."
Sie stellte sich hin und sprang.
Viele hielten den Atem an.
Doch Ora landete auf einem Balken, sprang weiter zur Dachrinne und rutschte herunter.
Dann ging sie zu den beiden Männern.
"Das ist... interessant!", sagte Monsieur Roux und versuchte, unbeeindruckt zu klingen, "Gehst du auf eine Turnschule?"
"Auf eine was?", fragte Ora, "Wer bist du überhaupt?"
M. Bonnet mischte sich noch schnell genug ein, bevor sein Kollege ausrastete, da sie "du" gesagt hatte.
"Das ist mein Kollege, Monsieur Roux", sagte er, als wäre nichts passiert.
"Du darfst fremde erwachsene Menschen nicht mit "du" ansprechen! Das ist respektlos! Sprich sie immer mit "Sie" an!", flüsterte er dem Drachen zu.
Ora hielt den Mund.
"Was wollten sie von ihr?", fragte der Mann.
"Nun, ich kenne sie nicht und wollte sie kennenlernen!", erwiederte Roux, "Komische Frage!"
"Das ist Ora!", sagte Bonnet, "Sie ist neu an der Schule!"
"Schön, dich kennenzulernen, Ora!", sagte der Fremde und wollte ihr die Hand geben.
Diese wusste nicht, was das bedeutete und zögerte.
Ihre Freunde zeigten ihr im Hintergrund, was sie tun musste.
Dann gab sie ihm die Hand und drückte fest zu.
Sie zerquetschte ihm fast die seine.
Die Prothese reagierte etwas zu stark.
Doch sie zog ihre Hand noch schnell weg als sie den Schmerz in seinen Augen sah.
Dem Mann, der regelmäßig das Fitnesstudio besuchte, war das peinlich und er unterdrückte es.
"Was hast du denn da gemacht?", fragte er, als er den Apparat sah.
"Och, nichts weiter", sagte Ora und zog ihren Arm weg.
"Na gut, danke für das Gespräch! Du kannst wieder gehen!", sagte Roux und zog Bonnet zur Seite um mit ihm zu reden.
Ora stieg, genau so elegant wie sie runter gekommen war, zurück auf das Dach.
Die anderen Schüler sahen ihr gespannt dabei zu.
"Ich denke, sie wird eine von den Austausschülern sein!", sagte Roux.
"Sicher?", fragte sein Kollege, "Sie ist etwas... speziell!"
"Nun, ein Mädchen mit diesem Temperament ist perfekt für einen guten Film!", sagte Roux.
"Na gut..", erwiederte Bonnet, "Wie sie meinen!"
Dann ging er, um Ora wieder zu holen.
Diese war nicht so begeistert von dem Vorschlag.
"Tut mir Leid, aber das fällt unter die Schulpflicht!", erklärte der Mann, "Ich kann ihm doch auch nicht sagen, dass du nicht als Schülerin zählst!"
Ora ging wütend mit ihm mit.
Ihr blieb nichts anderes übrig.
Monsieur Roux klärte einige Aspekte mit ihr ab.
Ora stimmte, wenn auch widerwillig, zu.
"So, nun müsste ich noch mit deinen Eltern sprechen!", sagte der Mann, "Wo kann ich sie treffen?"
Ora stockte.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Dafür müssten Sie sterben!", sagte sie und ging davon.
"Tut mir Leid... das wollte ich nicht...", stotterte der Mann, doch das Mädchen hörte ihn nicht mehr.
Ihre Freundinnen versuchten, sie zu beruhigen.
"Ihre Eltern sind tot, seit sie ein kleines Mädchen war!", erklärte Bonnet, "Sie hasst es, darüber zu reden!"
"Das wusste ich nicht", sagte Roux.
"Keine Sorge, morgen hat sie sich wieder abreagiert", erwiederte sein Kollege.
"Aber... könnte ich mit ihren Adoptiveltern reden?", fragte der Besucher.
Nun stockte auch Bonnet.
"Nun... sie hat keine Adoptiveltern! Sie lebt mit ihrer Schwester alleine!", sagte er, "Alles was auszumachen ist, ist ausgemacht!"
Roux schwieg.
Er war sich nicht sicher, ob er das verstehen wollte.
Dann sah er zu dem Mädchen.
Sie schien glücklich zu sein.
Er ging zu ihr, um sich zu entschuldigen.
"Schon gut...", sagte diese, ohne ihm in die Augen zu sehen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
"Kann ich... mich darauf verlassen, dass du am Montag pünktlich in meiner Schule erscheinst?", fragte er vorsichtig.
Sie nickte.
"Aber ich...", sagte sie zögernd.
"Deine beiden Freundinnen kannst du mitnehmen!", sagte der Mann, "Sie sind in der Tauschgruppe dabei!"
Die Mädchen jubelten.
Ora's Blick hellte sich auf, als sie das sah.

Am Montag darauf erschienen die Mädchen pünktlich eine Stunde vor Schulanfang im Schulhaus.
Der Direktor zeigte ihnen ihre Hotelzimmer, in denen sie für drei Wochen wohnen sollten.
Sie waren riesig, doch Ora fühlte sich nicht wohl.
Sie räumte alles um, damit es sie an ihr eigenes Schlafzimmer erinnerte und schlief auf dem Boden, da ihr sie Matratze zu weich war.
Ihre beiden Freundinnen jedoch waren begeistert davon.
Sie fanden es einfach cool.
Den beiden anderen Schülern aus ihrer Klasse, Louis und Damien ging es genauso.
Die nächsten drei Wochen würden sie einen Film drehen müssen.
Das Thema ihres Films war "Horror".
"Ora könnte den Bösewicht spielen!", schlug Damien vor "Sie kann echt gruselig sein!"
Der Drache sah ihn finster an.
Sie hatte unglaublich schlechte Laune.
"G... genau das meinte ich", sagte der Junge zögernd.
"Ora, könntest du dich bemühen, wenigstens ein bisschen nett zu schauen?", fragte Monsieur Roux vorwurfsvoll.
Ora's Miene verfinsterte sich jedoch nur stärker, weshalb er sie in Ruhe ließ.
Im Pausenhof stand sie die ganze Zeit nur an der Wand und wenn sie nicht meditierte, durchbohrte sie die Lehrer und Schüler mit ihrem Blick.
Einer der Schüler, der auf den Namen Eric hörte, tyrannisierte alle anderen, hauptsächlich Neuankömmlinge.
Selbst die Lehrer konnten nichts dagegen machen, da er der Sohn eines Sponsors der Schule war, welcher ihnen die Hölle heiß machen würde, würden sie ihm einen Verweis geben.
Doch Ora war das egal.
Als sie sah, wie Eric einen kleinen Jungen verprügelte und die Lehrer nur daneben standen, verließ sie ihr letzter Nerv.
Sie ging zu ihm, tippte ihm auf die Schulter und sagte: "Kleine Jungs schlägt man nicht, Freundchen!"
"So?", fragte dieser, "Aber große Mädchen schon!"
Er ballte seine Hand zu einer Faust und schlug zu.
Ora jedoch machte das nichts aus und sie schlug zurück.
Sie verpasste ihm ein blaues Auge und ging wieder.
Am nächsten Tag kam der Junge mit seinem Vater in die Schule.
"Da! Die da drüben war es!", sagte er und zeigte auf Ora.
"Ein Mädchen?! Du hast dich von einem Mädchen verdreschen lassen?!", fragte sein Vater, der Boxweltmeister war, "Waschlappen!"
Er ging auf den Drachen zu.
"Du hast also meinen Sohn verdroschen?", fragte er, "Wieso?"
"Na ja, ich bin nur die einzige, die sich traut sich zu wehren!", sagte das Mädchen und zeigte keinerlei Respekt vor dem zwei Meter großen Mann, der vor ihr stand, "Ihr Sohn ist das reinste Dreckschwein!"
Jetzt hatte sie den Boxer richtig provuziert.
Er schlug einmal fest zu.
"Das hätte ich nicht gemacht!", sagte Mae, "Leg dich niemals mit unserer Freundin an!"
Als der Mann sie ansah, hielt sie sich jedoch zurück.
Ora wurde wütend.
Sie war kurz davor, ihre Krallen auszufahren, doch beherrschte sich noch früh genug.
Sie wischte sich das Blut vom Gesicht und stand auf.
"Glück gehabt, dass du die Maske trägst, sonst wärst du jetzt auf einem Auge blind!", lachte Eric.
"Das bin ich sowieso schon, dafür brauch ich euch nicht!", erwiederte Ora.
"Trägst du dieses Ding deswegen?", fragte der Junge.
"Vielleicht", erwiederte Ora, "Aber das geht dich nichts an!"
Sie drehte sich um und ging.

"Wir hätten gedacht, du würdest den Typ jetzt verprügeln!", sagte Lina.
"Ich war kurz davor!", sagte der Drache, "Beim nächsten Mal dann!"

Der Junge hatte tatsächlich aufgehört, andere Schüler zu mobben.
Die Vorwürfe seines Vaters, dass er ein Schwächling wäre, hatten ihn verletzt.
Er ging mit ihm ins Fitnesstudio und plante, sich an Ora zu rächen.
Er hatte sich das einfacher vorgestellt.
Denn egal wie oft er das Mädchen angriff, sie war ihm überlegen.
"Das kann doch nicht sein, dass due so stark ist!", sagte Eric zu seinen Eltern, "Die nimmt doch irgendwas!"
"Ein Mädchen? Die sind sich doch viel zu eitel, um sowas zu machen!", sagte sein Vater, "Du bist einfach zu schwach! Vielleicht solltest du sowas nehmen!"
"Hört sofort auf! Lass ihn doch, wenn er nicht will!", unterbrach ihn seine Frau, "Das Mädchen ist jetzt noch zwei Wochen hier, danach ist nichts mehr! Außerdem hat sie nur dem kleinen Kind geholfen! Sie hat gutes Recht, andere zu verteidigen!"
Die beiden schwiegen.

Die Königin der DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt