Kapitel 36

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Vor ein paar Tagen hat Carlos mir angeboten, dass ich das Atelier seiner Mutter benutzen darf. Nachdem vor allem die letzten Tage so viel zwischen meiner Mutter, Barbara und mir passiert ist, habe ich mich schließlich dazu entschieden dieses Angebot wahrzunehmen, um den Kopf ein wenig freizubekommen.

Gedankenverloren tauche ich den Pinsel in die weiße Farbe, ehe ich ihn auf der Leinwand platziere. Allmählich nimmt mein Gemälde, welches eine hellblaue Vase mit prachtvollen weißen Margeriten zeigt, Gestalt an.

Ich bin so vertieft in mein Tun, dass ich erst merke, dass Carlos den Raum betreten hat und unmittelbar neben mir stehen geblieben ist, als er sich räuspert.

Erschrocken fahre ich zusammen und sehe ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Carlos Lippen formen sich zu einem leichten Lächeln, während er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen mein Gemälde begutachtet.

„Du hast mich erschreckt", teile ich Carlos mit und sehe ihn empört an. Beinahe hätte ich mich vermalt, womit das gesamte Gemälde zerstört wäre.

„Tut mir leid", erwidert Carlos und richtet seine grünen Augen nun auf mich. Das Lächeln auf seinen Lippen wird ein wenig breiter. „Du hast da etwas Farbe", stellt Carlos fest. Vorsichtig wischt er mir mit seinem Daumen die Farbe aus dem Gesicht, wobei wir uns ein Stück näher kommen und ich ihn mit leicht geöffneten Lippen und geweiteten Augen ansehe. Carlos hält inne und schluckt schwer, während seine grünen Augen sich tief in meine braunen bohren.

„Margeriten..", stellt Carlos schließlich fest und tritt einen Schritt zurück, wobei er seine Hand von meiner Wange entfernt und sinken lässt. Seine Augen wandern wieder zu dem Gemälde, das die Margeriten zeigt.

„Ja, ich finde sie wunderschön", teile ich Carlos mit. Margeriten sind meine Lieblingsblumen.

Er wendet sich mir wieder zu und seine grünen Augen bohren sich tief in meine. „Ich finde sie auch.. wunderschön", erwidert er und für einen Augenblick zweifle ich, ob er damit tatsächlich die Blumen meint. Doch sofort schlage ich mir den absurden Gedanken, dass Carlos womöglich mich damit meinen könnte, wieder aus dem Kopf.

Als kleines Mädchen habe ich, wenn ich verliebt war, immer die Blütenblätter der Margeriten, die bei uns im Garten gewachsen sind, abgerissen, um Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht zu spielen. Als meine Mutter das gesehen hat, wurde sie immer total wütend, hat mir jedoch genauso schnell auch wieder verziehen.

„Ich wollte dich fragen, ob du zum Essen mit runter kommst?", wechselt Carlos das Thema.

„Ich weiß nicht, ob ich mit ihnen am selben Tisch sitzen kann", erwidere ich ehrlich. Zwar habe ich mich vor ein paar Tagen mit Barbara ausgesprochen, doch die ganze Sache erdrückt mich wie ein tonnenschweren Stein. Ich kann Barbara nicht mehr ansehen ohne mir vorstellen zu müssen, was mein Vater ihr angetan hat. Es muss schrecklich für sie gewesen sein all die Jahre mit ihm unter dem selben Dach gelebt zu haben, um mich nicht zu verlieren.

„Die beiden haben schon gegessen und sind noch rausgegangen, um einen Spaziergang zu machen", antwortet Carlos und sieht mich hoffnungsvoll aus seinen grünen Augen heraus an. „Ich habe gekocht", fügt Carlos rasch hinzu und kratzt sich verlegen am Hinterkopf.

„Du hast gekocht?", frage ich überrascht. Ich weiß, dass Carlos eine Haushälterin hat, die normalerweise kocht. Umso überraschter bin ich, dass er nun selbst gekocht hat.

„In zehn Minuten erwarte ich dich im Esszimmer", teilt Carlos mir mit und verlässt das Atelier.

Nachdem ich alle Pinsel gereinigt und alles wieder an seinen ursprünglichen Platz gepackt habe, begebe ich mich schnurstracks ins Gästezimmer um mich umzuziehen. Ich entscheide mich für ein schlichtes hellblaues Wickelkleid und binde mir das braune Haar zu einem hohen Zopf.

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