Kapitel 26

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„Wie fühlst du dich?", erkundigt Carlos sich bei mir, als wir das Krankenhaus nach meiner Entlassung gemeinsam verlassen.

Noch immer halte ich die Schmerztabletten, die mir für das Wochenende von der Station mitgegeben wurden, fest in meinen Fingern umschlossen.

Ich bin froh, nicht länger im Krankenhaus liegen zu müssen. Doch auf der anderen Seite habe ich auch Angst. Ins Krankenhaus hat sich mein Vater zwar nicht gewagt, denn das würde zu viel Aufsehen erregen, was er natürlich um jeden Preis zu verhindern versucht. Doch was passiert, wenn er erfährt, dass wir uns bei Carlos aufhalten?

„Ich habe noch ein wenig Schmerzen", antworte ich wahrheitsgemäß auf Carlos Frage.

„Und abgesehen davon?", hakt er weiter nach. Verwirrt sehe ich den jungen Mann an, dessen braunen Locken perfekt gestylt sind. Er trägt seinen schwarzen Anzug, was mich schließen lässt, dass er zuvor in der Firma gewesen ist.

„Gut..", erwidere ich und erwische mich selbst dabei, wie ich mich immer wieder umsehe.

Seine grünen Augen durchbohren mich fragend. „Du wirkst besorgt. Wovor hast du Angst?"

Zeitgleich erreichen wir den dunklen Mercedes, der direkt vor dem Haupteingang parkt und in dem zwei weitere Männer sitzen. Auf dem Fahrersitz sitzt jener Mann, der Carlos und mich vor einigen Wochen in die Kunstgalerie gefahren hat. Den jungen Mann auf dem Beifahrersitz erkenne ich als Lucian wieder. Carlos öffnet den Kofferraum und verstaut die kleine Tasche darin, die Barbara mir vor wenigen Tagen ins Krankenhaus gebracht hat.

„Ich habe keine Angst", lüge ich und wende den Blick von Carlos ab.

Er schließt die Kofferraumtür. Doch statt sich ins Auto zu setzen, bleibt er am Kofferraum stehen und greift nach meinem Gesicht, hebt es vorsichtig an, sodass ich ihm wieder in die Augen blicke, die mich intensiv ansehen.

„Ich lasse nicht zu, dass er dir nochmal wehtut", sagt Carlos ernst. „Ich verspreche es dir. Du hast mein Wort"

„Was ist dein Wort wert?", frage ich und entziehe mich seinem Griff. „Wenn er uns findet.."

„Ich habe sämtliche Vorrichtungen getroffen. Selbst wenn er auftaucht werden meine Security ihn nicht weiter kommen lassen als bis zum Tor", versichert Carlos mir.

„Wieso tust du das für mich?", frage ich Carlos. Ich möchte nicht undankbar klingen, denn ich bin Carlos unendlich dankbar für das, was er sowohl für mich, meine Mutter und Barbara tut. Vermutlich hat er bloß ein schlechtes Gewissen, weil das Missverständnis zwischen ihm und meinem Vater zu dieser Situation geführt hat.

Carlos Miene verändert sich schlagartig. Seine Gesichtszüge spannen sich an und er beginnt mit dem Kiefer zu mahlen.

Hätte ich geahnt, dass diese Frage ihn so aus der Bahn wirft, hätte ich sie nicht gestellt.

Carlos lässt mein Gesicht los. Um den Abstand zwischen uns zu wieder zu gewährleisten, tritt er einen Schritt zurück. „Wir sollten jetzt einsteigen", sagt er rasch und wendet sich von mir ab.

Auf der gesamten Fahrt, die fast eine halbe Stunde dauert, sprechen Carlos und ich kein Wort mehr miteinander. Doch es ist kein unangenehmes Schweigen. Eigentlich bin ich sogar ganz froh, dass wir keine gezwungene Unterhaltung miteinander führen. Dennoch schüchtert mich Carlos Gegenwart ein.

Er scheint so unberechenbar; in der einen Sekunde wirkt er interessiert und besorgt, während er in der nächsten Sekunde auf einmal kühl und gleichgültig ist.

Vor Carlos Haus angekommen, steige ich unter leichten Schmerzen aus dem Wagen aus, wo ich sofort von der bedrückenden Mittagshitze erschlagen werde.

Wie kann es innerhalb von einer halben Stunde plötzlich so heiß werden?

Carlos scheint zu merken, wie sehr mich die heißen Temperaturen mitnehmen, weshalb er sich beeilt meine Tasche aus dem Kofferraum zu holen, ehe wir ins angenehm kühle Haus gehen. Dort stellt er meine Tasche vor der Treppe ab.

„Emilia", ertönt die Stimme meiner Mutter hinter mir. Sofort drehe ich mich zu meiner Mutter um, welche mich das erste Mal seit ein paar Tagen wieder richtig ansehen kann. Freudig fallen wir uns in die Arme. „Wie geht es dir, mein Engel?"

Ich spüre, wie sich bei ihrer Frage ein Kloß in meinem Hals bildet. Ich schlucke schwer. „Gut", sage ich mit belegter Stimme.

Am liebsten würde ich meine Mutter an den Schultern packen und schütteln. Sieht sie denn selbst nicht, dass sie etwas tun muss? „Wie geht es dir?", gebe ich meine Frage stattdessen gefasst zurück. Ich löse mich aus unserer Umarmung und sehe ihr in die von dunklen Schatten umrandeten braunen Augen.

„Ich bin bloß froh, dass ich dich wieder habe", erwidert sie und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Mama..", sage ich mit ernster Stimme und greife nach ihren Händen. „Bitte geh nicht mehr zu ihm zurück.." Meine Stimme klingt flehend.

„Was soll ich sonst tun? Dein Vater würde niemals einfach so hinnehmen, dass ich ihn verlasse", sagt sie. Barbara, die nur wenige Meter entfernt hinter meiner Mutter steht, senkt den Blick.

Wir müssen ihn verlassen, Mama. Endgültig", versuche ich ihr ins Gewissen zu reden. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubt den Mann zu verlassen, der sie jahrelang misshandelt hat, spüre ich, dass sie tief in ihrem Inneren weiß, dass es für uns beide die richtige Entscheidung ist. Ihr fehlt bloß der Mut dazu, es in die Tat umzusetzen. Es ist einfach nicht so leicht, wie es klingt, sich aus einer toxischen Beziehung zu lösen. 

„Emilia hat recht", mischt Carlos sich plötzlich ein und stellt sich unmittelbar neben mich. „Sie sollten diesen Mann verlassen und sich ein neues Leben aufbauen"

„Ich kann das nicht..", erwidert meine Mutter sichtlich beschämt und schüttelt den Kopf.

„Wenn Sie es nicht für sich können", beginnt Carlos, ehe ich seine warme Hand an meiner Schulter spüre. „Tun Sie es für Emilia"

Tränen laufen meiner Mutter über die Wange. Sofort ist Barbara zur Stelle, um sie in eine tröstende Umarmung zu ziehen. „Carlos hat recht. Du solltest deinen Ehemann verlassen. Sowohl um deinetwillen, als auch um das Wohlergehen von Emilia. Wenn Carlos nicht gewesen wäre, wäre sie vielleicht tot.."

Ich höre, wie meine Mutter erschrocken nach Luft schnappt.

Die Tatsache, dass ich vielleicht nur noch hier stehe, weil Carlos meinen Vater von mir weggezogen hat, bevor es noch schlimmer kommen konnte, schockiert sie und zugleich scheint es auch an ihren Verstand zu appellieren.

„Lasst mir bitte noch Zeit all das zu überdenken..", bittet meine Mutter uns.

Ich kann verstehen, dass ihr die Entscheidung schwer fällt. Einerseits ist da diese unfassbare Wut und der Hass, den man diesem Menschen gegenüber empfindet, doch auf der anderen Seite ist da auch die Verbundenheit. Ich weiß, dass es Tage gab, an denen mein Vater sie bedingungslos geliebt hat. Und vielleicht verbirgt sich irgendwo hinter diesem Monster immer noch ein Mann, der seine Frau liebt. Aber je länger sie bei ihm bleibt, desto schlimmer wird es für uns beide.

„Natürlich", zeigt Carlos sich verständnisvoll. „Aber versprechen Sie mir, sich nicht zu viel Zeit zu lassen. Je länger Sie darüber nachdenken, nach desto mehr Gründen werden Sie suchen es zu lassen"

Allmählich spüre ich, dass mir das lange Stehen zu anstrengend wird, was auch Carlos nicht zu entgehen scheint. „Ich zeige dir, wo du schlafen kannst und wenn du möchtest kannst du dich hinlegen", schlägt er mir vor und ich nicke einverstanden. Carlos greift nach meiner Tasche und wirft sich diese über die Schulter, ehe wir langsam die Treppen nach oben gehen, wo er mir das Gästezimmer, welches sich unmittelbar neben seinem Schlafzimmer befindet, zeigt.

Sofort lasse ich mich auf dem bequemen Himmelbett nieder und atme erleichtert auf. Daraufhin schlucke ich eine Schmerztablette, die mir von Station mitgegeben wurde und von denen ich immer ziemlich schnell müde werde. „Ich wollte mich nochmal bei dir bedanken", sage ich, als Carlos gerade den Raum verlassen möchte. „Dafür, dass du uns bei dir unterkommen lässt. Das ist mehr, als ich von dir verlangen kann.."

„Das ist das Mindeste, was ich für dich tun kann", erwidert Carlos ernst. Kurz darauf verlässt er das Gästezimmer und lässt mich alleine.

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