49. Kapitel: Danach

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Annas POV

Steven brachte mich nach Hause. Der gesamte restliche Abend war ein einziger Schleier von Erinnerungen. Es kam mir vor, als hätte nicht ich das erlebt, sondern eine andere Person. Eine andere Person war dort weinend zu Boden gesunken. Es kam mir surreal vor, es war nicht passiert. Es konnte nicht passiert sein.

Ich weiß gar nicht, wer du bist.

Die Worte hatten mich getroffen, mich tatsächlich umgeworfen. Ich war zusammen gesackt, hatte mich mit der Hand aufgefangen und gar nicht gemerkt, wie mir eine der Glasscherben in die Handfläche schnitt.

Ich hatte nichts mehr wahrgenommen - weder die Anwesenheit der anderen Gäste, noch Max' wütendes Schnauben. Vielleicht hätte ich ihm hinterher laufen sollen. Doch der Ausdruck in seinen Augen hatte mich davon abgehalten. Die Enttäuschung hatte mich niedergeschmettert, die Abneigung den Boden unter den Füßen entzogen. Mit Wut hätte ich umgehen können. Mit Wut und Enttäuschung hatte ich gerechnet. Aber er hatte mich angesehen wie eine Fremde.

Nachdem der erste Schock überwunden war, hatte sich Bewegung in die Menge gesetzt. Abudi hatte Max losgelassen und war mit John und Joe gemeinsam Raphael hinterher gestürmt. Lisa und Philip hatten weiter beruhigend auf meinen Bruder eingeredet und ihn schließlich mit Rico gemeinsam durch den Hinterausgang verfrachtet und waren gefahren. Farido hatte die Scherben eingesammelt. Elif setzte sich zu mir und hatte mit mir gesprochen. Ich wusste nicht mehr, was sie gesagt hatte. Was ich ihr hoch anrechnete war, dass sie keine Fragen gestellt hatte, keinen Vorwurf gemacht hatte - stattdessen hatte sie nur versucht, mich irgendwie zu beruhigen.

Schließlich war Steven mit meinem Mantel gekommen, hatte ihn mir umgelegt. Ohne zu sprechen hatte er nach meiner Hand gegriffen, die Scherbe rausgezogen und mir ein Taschentuch in die Handfläche gedrückt. Er hatte mich hochgezogen und ebenfalls zum Hinterausgang geführt - mehr getragen, ich wusste nicht mehr, ob ich wirklich selbst gelaufen war oder er mich gezogen hatte. Es war mir auch egal gewesen. Im Hinterhof parkte sein großer Audi Q5. Die kalter Berliner Nachtluft erfasste mich und der ihr anhaftende Geruch nach Urin, Gras, Dreck und Abgasen hatte mich für einen Augenblick wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt. Meine Tränen versiegten kurz, die Realität holte mich ein. Mein Körper war taub. Das einzige Gefühl, dass ich spürte, war der brennende Schmerz der Schnittwunde, derer Existenz ich mir erst jetzt bewusst wurde.

Immer noch schweigend hatte Steven die Beifahrertür geöffnet und mich abwartend angesehen. Ich hatte mich selbstständig gesetzt, wohl darauf bedacht, kein Blut an die Sitze zu schmieren.

"Adresse?", hatte er geknurrt und ich hatte sie einfach ins Navi getippt. Ich traute mich nicht zu sprechen. Ich wusste nicht, was aus meinem Mund kommen würde, sollte ich ihn öffnen. 

Steven setzte den Wagen in Bewegung und lenkte ihn das kurze Stück zu meiner Wohnung. Im gleichen Moment überkam mich ein weiteres Schluchzen. Raphael. Wo steckte er? Ging es ihm gut? Würde er nach Hause kommen - in die Wohnung, die direkt neben meiner lag? Würde ich ihn jetzt direkt wieder sehen?

Steven hatte die ganze Fahrt über nicht gesprochen, mir nur Tempos gereicht. Er parkte zweite Reihe vor der Haustür. Ich zitterte so stark, dass er mir die Handtasche vom Schoß nahm, meinen Schlüssel hervorzog und aufschloss. Noch im Flur hatte ich mir die Heels vom Fuß gestreift, meinen Schlüssel gepackt und kurz in die Stille gehorcht - nichts. Selbst wenn Raphael hier war, im Flur war er nicht. Vor seiner Wohnungstür blieb ich unschlüssig stehen. Ich hatte seinen Schlüssel am Bund, ich könnte reingehen und nachsehen. Doch was würde ich dann sagen? Was konnte ich tun, um diese Situation zu verbessern? Nichts, außer ihm Zeit geben. Er wollte mich jetzt nicht sehen. Und wenn ich ehrlich war, würde ich mich jetzt auch nicht sehen wollen.

BESSER SAG NIX - SAG MIR ALLES | RAF CamoraTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon