38. Kapitel: Vergangenheit

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Raphaels POV

Ich lag in meinem Bett und starrte im Dunkeln die Decke an. Annas Ohrfeige hatte mich ins Hier und Jetzt zurückgebracht. Sie hatte nicht fest zugeschlagen, aber es hatte gereicht, dass meine Wange pochte und ich genau spürte, wo ihre Handfläche gelandet war. Ihre Ohrfeige war berechtigt gewesen. Ich war zu weit gegangen. Sie aber erst recht.

Es hatte keinen Sinn einen Schuldigen an der Situation zu suchen. Stöhnend warf ich mich auf die andere Seite des Bettes. Annas Seite. Ihr hatte es offensichtlich nicht gut gegangen und ich hatte sie gereizt. Kein Wunder, dass sie mir eine geklebt hatte. Ich schämte mich für die Dinge, die ich gesagt hatte. Aber sie hatten raus gemusst. Ich wollte geduldig mit ihr sein, aber auch meine Geduld hatte Grenzen.

Die Leere in ihren Augen trat in meinen Kopf sobald ich die Augen schloss. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich kannte das Rabenschwarz ihrer Augen, wenn sie wütend wurde. Ich wusste das Feuer der Erregung von dem Feuer der Aggression zu unterscheiden. Ich konnte ihre Augen lesen wie eine Karte. Aber die Leere, diese maßlose Erschöpfung war neu. Ihre Augen hatten glasig und emotionslos gewirkt. So als wäre sie in ein Loch gefallen. Völlige Gleichgültigkeit. Das traf es vermutlich am ehesten. Dieses Bild hatte sich in meinem Kopf eingebrannt und mir erst klar gemacht, was ich gesagt hatte. Selbst wenn ihre Augen vor Wut glühten, zeigte sie Emotion. Jetzt nicht.

Wieder änderte ich meine Position. Mein Körper war erschöpft vom Alkohol, aber mein Geist hellwach. Ich hatte Abudis Worte an mich herangelassen. Er hatte es nicht böse gemeint, aber mir war bewusst geworden, dass ich mir diese Fragen insgeheim auch schon gestellt hatte. Anna war ein anderes Kaliber als ich: ein anderer Hintergrund, eine andere Lebenseinstellung, ein anderes Außenbild. Ihre Welt war eine andere als meine: elitär, akademisch, spießig. Meine war wild, laut und unberechenbar. Und die Tatsache, dass wir immer nur in meiner Welt geblieben waren, verunsicherte mich. Da fand ich berechtigt, dass ich mich fragte, ob sie sich für mich schämte.

Weil meine Eltern mich umbringen, wenn sie erfahren, dass ich mit jemandem wie dir zusammen bin! Bist du jetzt zufrieden, Raf Camora?

Ihre Worte hallten in meinen Ohren nach. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ihre Eltern wirkten nicht so. Außerdem hatte sie Johann von mir erzählt. Dennoch hatten sie genau da wehgetan, wo Anna es vermutlich geplant hatte.

Fuck. Was für eine absolut beschissene Situation. Kurz überlegte ich, einfach rüber zu gehen und das mit ihr zu klären. Ich hatte ihren Schlüssel. Allerdings war es kurz vor vier und sie schlief vermutlich schon.

Heute ist ihr Geburtstag. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Scheiße. Was war ich für ein Freund. Wenn jeder ihrer Geburtstage so ablief, war es kein Wunder, dass sie sie hasste. Was sollte ich nur machen? Morgen würde ich als erstes mit tausend roten Rosen vor ihrer Tür stehen und sie auf Knien um Verzeihung bitten. Es war doch scheiß egal, wer im Unrecht war. Sie hatte Geburtstag und ich würde ihr diesen Tag nicht versauen.

Ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Hoffentlich würde sie mich überhaupt sehen wollen.

Ein Geräusch ließ mich hellhörig werden. Es war ein Kratzen. Ein Schlüssel im Schloss. Anna. Ob sie gekommen war, um mich anzuschreien? Oder um mich mit einem Kissen zu ersticken? Mein Körper war wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen.

Die Tür öffnete sich mit einem leichten Knarren. Anna schloss sie leise. Ich hörte, wie sie die Stufen zu meinem Schlafzimmer hoch schritt. Sie schien unschlüssig vor dem Bett zu stehen. Ich hatte die Augen geschlossen und lag mit dem Rücken zu ihr. Ich wusste nicht, was ich tun sollte; wusste nicht, was ich sagen sollte.

Die Matratze senkte sich leicht ab als Anna sich an die Bettkante setzte. Sie seufzte. Schließlich rutschte sie ans Kopfende. Ich drehte mich zu ihr um. Sie saß gegen die Kopflehne gelehnt, hatte die Beine angewinkelt und ihre Arme darum geschlungen. Ihr Kopf ruhte auf ihren Knien. Sie starrte geradeheraus.

BESSER SAG NIX - SAG MIR ALLES | RAF CamoraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt