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Am Abgrund meines Seins stehe ich und werfe einen Blick auf das Chaos, das mein Leben zu sein scheint, und frage mich, ob es jemals einen Moment geben wird, an dem ich mit voller Überzeugung behaupten kann, dass mein Leben normal verläuft.
Aber die Wirklichkeit, in der ich mich bewege, scheint solchen Vorstellungen zu verspotten.
Stattdessen finde ich mich in einem Wirrwarr aus Beziehungen wieder,  die ebenso komplex wie herausfordernd sind.

Da ist zunächst Emelie, dass sie wieder einmal in Schweigen verfällt und kein Wort mit mir wechselt.
Ich hinterfrage es nicht einmal.
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ihre Stimmungsschwankungen mit Colline zusammenhängen.
Ihre Beziehung steckt noch in den Kinderschuhen, und doch ist es offensichtlich, das es Spannungen gibt, die das Glück der beiden erschüttert.

Meine Vermutung ist, dass Colline sich Emelie gegenüber hinsichtlich seiner Vergangenheit geöffnet hat und dabei auch Themen angesprochen wurden, die bis in die Gegenwart nachwirken.
Vermutlich hat er Details preisgegeben, die noch immer Teil seines aktuellen Lebens sind und diese Offenbarung dürfte bei Emelie kaum für Begeisterung gesorgt haben.

Gabe befindet sich momentan auf einem  persönlichen Rachefeldzug  gegenüber Luca.
Seine Gedanken und Pläne sind wie ein kreatives Chaos, das ein breites Spektrum abdeckt: von harmlosen, doch bizarren Streichen, die man eher in einem Jugendstreich erwarten würde, bis hin zu sorgfältig durchdachten und ausgeklügelten Racheakten, die eine subtile Meisterschaft der Intrige offenbaren.
Diese Vorschläge, obwohl sie mit einer gewissen schelmischen Genialität gespickt sind, erweisen sie sich in der Realität als schwierig,

In einem anderen emotionalen Zustand, hätte ich vielleicht ein leises Schmunzeln über die Kreativität und Ausdauer nicht unterdrücken können, mit der Gabe sich diesen Racheplänen widmet.

Dann gibt es mein Bruder.
Tyler zieht sich immer mehr zurück, lässt seine Trauer und den Schmerz zu, die ihn umklammern.
Jedes Jahr zur selben Zeit, wenn der Kalender auf die Tage zusteuert, fällt er zurück in die schwere Phase  und jetzt nachdem ihr Jahrestag an die Tür geklopft hat, lässt er niemanden an sich ran.
Ich hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit mit ihm zu sprechen, da er mich danach aus seinem Zimmer warf.

Es sind fast 2 Jahre vergangen das Linsey tot ist.
Linseys Tod hat eine Wunde in Tylers Herz hinterlassen, die scheinbar niemals heilen wird.
Sie war nie der beste Umgang für ihn, trieb ihn mehr ins Verderben als dass sie ihm Halt gab.
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass er diesen Teil seines Lebens hinter sich lässt und neu beginnt, doch ich stehe selbst vor den Trümmern meiner eigenen Existenz, unfähig, ihm den Weg zu weisen.

Inmitten des tobenden Sturms meines Daseins ist es der Gedanke an Jason, der mich wie ein rettender Anker hält und mich davor bewahrt, in den Abgrund des Chaos hinabgezogen zu werden.

Jason tut mir gut, er holt mich aus meiner Einsamkeit raus um meinem langweiligen Alltag zu entfliehen.
Trotz aller Vernunft, die mir zuflüstert, das die Konsequenzen gravierend sind, ist dieser Nervenkitzel berauschend, der in jede Faser meines Körpers läuft.
Es ist ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, das mir zeigt, dass das Leben Risiken und Leidenschaft beinhaltet, eine Lektion, die ich in meiner bisherigen Existenz nur allzu oft vergessen hatte.

Vielleicht sollte ich ihm misstrauen, bedenkt man das Gewirr aus Rivalitäten und ungesagten Spannungen, das uns umgibt.
Doch in seiner Gegenwart erlebe ich ein unerwartetes Gefühl der Sicherheit, fast so, als ob er, und nur er, die tiefsten Ecken meiner Seele versteht, jene Teile, die ich selbst kaum zu erkunden wage.

Mit ihm zu sprechen, fühlt sich an, als würde ich endlich atmen, ohne wirklich Luft zu holen.
Es ist, als könnte ich ihm die verborgensten Gedanken anvertrauen, jene, die ich sonst sorgsam hinter einer Fassade aus Gleichgültigkeit verberge.

Es ist, als ob seine bloße Präsenz die Schatten vertreibt, die sich allzu oft in meinen Gedanken zusammenrotten.

Die Ironie der Situation entgeht mir nicht: dass jemand, von dem ich mich eigentlich fernhalten sollte, zum Ankerpunkt in meinem Leben wird.
Es ist ein Tanz auf dem Drahtseil, bei dem jeder Schritt wohlüberlegt sein muss, doch in den Momenten, in denen ich mich ihm öffne, scheint das Risiko eine untergeordnete Rolle zu spielen.
In diesen Augenblicken ist es einfach nur wichtig, verstanden und akzeptiert zu werden.

Vielleicht ist es gerade diese seltene Akzeptanz, die schwer zu finden ist, die mich trotz aller Vorbehalte näher an Jason bindet.
Seine Fähigkeit, mich für eine Weile meine Sorgen vergessen zu lassen, ist wie ein seltenes Geschenk, das ich nur zu gern annehme, auch wenn mein Verstand mir zur Vorsicht mahnt.

Für einen Moment ne gelingt es mir, Luca zu vergessen – ihn und die Narben, die er mir hinterlassen hat.
Trotz der Sehnsucht, die in mir brennt, habe ich es geschafft, dass meine Gedanken sich nicht ständig um ihn drehen.
Luca hatte die Schnapsidee, spät in der Nacht und stockbetrunken, zu Daniel zu fahren und zufällig war ich die Einzige, die zu dieser Zeit wach in der Küche war.
Schlaflos, gequält von wirbelnden Gedanken, war ich aufgestanden, um etwas zu trinken.
Ich hätte es besser wissen müssen – kaum hatte er mich gesehen, ließ er seinen Ärger an mir aus, und ich ließ es über mich ergehen, ohne Widerstand.

Niemand weiß, was Luca mir angetan hat, und das soll auch so bleiben. 
Die blauen Flecken, die wie Schatten meinen Oberkörper zieren, bleiben unter dem Stoff meines Tops verborgen, jene an meinen Armen kaschiere ich sorgfältig mit Make-up.
Jede Berührung tut weh, wenn ich versehentlich dagegenstoße oder jemand mich berührt, und niemand ahnt etwas von meinen verborgenen Schmerzen.

Wieder greife ich zur Flasche Jack Daniels, lasse den Alkohol brennend meinen Hals hinunterfließen. Die umfassende Dunkelheit der Nacht scheint mich zu verschlingen, nur das sanfte Rauschen des Wassers im Hafen bietet mir Trost. Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier sitze. 
Diesen abgeschiedenen Ort fand ich vor Jahren, als ich von zu Hause weg musste und ziellos durch die Straßen irrte.
Meine Schritte führten mich hierher, an diesen Ort, der zu meinem Zufluchtsort wurde, begleitet nur von meiner Flasche als stumme Gesellschaft.

Ich werde hier bleiben, bis die Flasche leer ist, in der Hoffnung, dass mich dann jemand der Jungs findet, weil ich nicht mehr in der Lage bin, alleine zurückzukehren. 
Der Alkohol wird nie mein Freund sein– zu bitter ist sein Geschmack – ertränke ich meine Sorgen in ihm, um für für ein paar Stunden Ruhe vor meinen eigenen Gedanken zu erschaffen.

Zu oft versinke ich in Gedanken und nehme die Welt um mich herum kaum noch wahr.
Ich sehne mich danach zu leben, wirklich zu leben, doch hält mich die Vergangenheit gefangen, eine Dunkelheit, die mich zu verschlingen droht.

GangbattleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt