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Montagmorgen, der Beginn einer neuen Woche, kündigte sich mit dem schrillen Läuten meines Weckers an.
Widerwillig schälte ich mich um zwanzig vor sieben aus dem Bett, eine Zeit, zu der ich normalerweise tief in den Kissen vergraben liege und den Träumen nachjage.

Mit jedem müden Schritt ins Badezimmer wird mir klarer, wie wenig Lust ich auf diesen Tag habe.

Die Vorstellung, wieder zur Schule zu müssen, war mir zutiefst zuwider. 
Als ich damals, endlich befreit vom letzten Schuljahr, das Gebäude verließ, tat ich dies mit einem triumphierenden Mittelfinger in die Luft gereckt – ein stummen Schwur, nie wieder zurückzukehren.
Und nun stand ich, um halb acht, widerwillig fertig angezogen und geschminkt im Wohnzimmer, wo Tyler bereits ungeduldig auf mich wartet.

»Bereit für deinen ersten Schultag?«, spottet er mit einen  Grinsen um die Lippen.

»Halt den Mund«, knurre ich zurück.

Die Zeit hatte mir weder für eine rettende Zigarette noch für den ersehnten Kaffee gereicht.
Nicht genug damit, dass ich dank ihm erneut die Schulbank drücken musst, nein, ich musst mich auch noch in das Erscheinungsbild einer durchschnittlichen Schülerin zwängen – genau jene Art, die ich in meiner eigenen Schulzeit verabscheut hatte.

Obwohl ich mich notgedrungen mit meinem neuen roten Haar arrangiert habe, sehne ich mich doch nach meiner alten Farbe zurück.
Die Kleidung, die ich trage, ist fernab von dem, was ich normalerweise auswähle, und das Make-up ist eine Beleidigung für jeden Spiegel, der es wagt, mein Spiegelbild zu reflektieren.

»Erinnere dich, was zu tun ist. Gewinne seine Aufmerksamkeit, ohne deine wahre Identität preiszugeben«, instruiert Tyler mich ernst.

»Das krieg ich schon hin«, entgegne ich, mehr um mich selbst zu überzeugen als ihn.
Schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich auf einen Typen zugehen musste.

»Luca hat sich bereiterklärt, dich zu fahren. Für den Rückweg bist du allerdings auf dich allein gestellt«, fügt Tyler hinzu und leitet mich zur Tür.

Die Aussicht auf den bevorstehenden Tag erfüllt mich mit tiefer Abneigung.

»Bis heute Abend dann«, sag ich, drehe mich von ihm weg und schlüpfe mit dem rosa Rucksack, den Emelie mir für die Schule geliehen hat, nach draußen.
Der Rucksack war das letzte, was ich gewählt hätte, wäre ich nicht Tylers Marionette gewesen.

Draußen wartet Luca bereits in seinem glänzenden neuen Wagen.
Ein höfliches »Guten Morgen« meinerseits quittiert er mit Schweigen, als wir uns auf den Weg zur Schule machen.
Lucas Ignoranz war mir recht; ich bin nicht in der Stimmung, mir seine Kommentare anzuhören – Tylers Spott hat für den ganzen Tag gereicht.

Die Fahrt verläuft in einem stillen Einvernehmen, begleitet von den leisen Klängen des Radios, die durch den Innenraum des Wagens schweben.

Luca, konzentriert auf die Straße, bricht das Schweigen nicht, was mir die Gelegenheit gibt, die Augen zu schließen und in Ruhe meine Gefühle und Gedanken zu ordnen.
Die morgendliche Stille der Stadt zieht an uns vorbei, eine ruhige Kulisse für die innere Unruhe, die mich erfasst bei dem Gedanken an das, was mir bevorsteht.

Als wir auf dem Schulhof ankommen, wird der luxuriöse Wagen sofort Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Das flaue Gefühl in meinem Magen verstärkt sich noch, als ich bemerke, wie alle Augen auf uns gerichtet sind.
Ich komme mir vor wie in einem Film, mit mir in der Hauptrolle.
So habe ich mir meinen ersten Tag sicher nicht vorgestellt.
Luca, anscheinend unbeeindruckt von der plötzlichen Aufmerksamkeit, schwingt die Autotür auf und steigt mit einer lässigen Bewegung aus.
Seine Sonnenbrille schiebt er sich mit einer Geste, die fast schon zu viel Selbstbewusstsein ausstrahlt, auf die Nase.
Um ihn herum beginnen einige Schülerinnen, vor allem die jüngeren, zu kichern und ihm schüchterne Blicke zuzuwerfen.

Ich nutze die Ablenkung, um mich aus dem Wagen zu schleichen, in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben. Doch kaum habe ich den ersten Schritt auf das Schulgelände gesetzt, spüre ich Lucas Blick in meinem Rücken.
Fast widerwillig schließt er sich mir an, als hätte er eine Rolle in diesem absurden Theaterstück übernommen.

Er greift nach meiner Hand, eine Geste, die sowohl Schutz als auch Besitzanspruch signalisiert.
Ich habe weder die Energie noch die Willenskraft, ihm zu widerstehen.
Seine Geste, obwohl wohlmeinend, fühlt sich aufdringlich an, eine weitere Erinnerung daran, dass ich hier nicht aus freien Stücken bin.

Gemeinsam betreten wir das Schulgebäude und es erfasst mich, eine seltsame Mischung aus Nostalgie und Abneigung.
Die Geräuschkulisse der Aula, das Stimmengewirr der Schüler, die an mir vorbeieilen – all das ist mir so vertraut und doch so fremd.

Das Sekretariat empfängt uns mit einer Mischung aus Neugier und Routine.
Luca übernimmt die Formalitäten, während ich still danebenstehe.

»Canzy Cooper«, wiederholt die Sekretärin meinen neuen Namen, der Name, den sie mir gegeben haben, hallt in meinen Ohren wider, ein Pseudonym, das sich anfühlt wie eine Maske, die ich gegen meinen Willen trage.

Luca nickt bestätigend, während er die Bücher und den Stundenplan entgegennimmt.
Ein kurzer Blickwechsel zwischen uns, gefüllt mit unausgesprochenen Fragen und Zweifeln.

Als wir das Sekretariat verlassen und Luca mir die Schlüssel und den Stundenplan in die Hand drückt, fühlte ich mich wie eine Schachfigur, die auf einem Brett bewegt wird, dessen Regeln mir unbekannt sind.
Sowie sein flüchtiger Kuss auf meinen Lippen, eine Geste, die mich gleichermaßen überrascht wie irritiert.

»Viel Glück, Ms Cooper«, sagt er mit einem schiefen Grinsen, bevor er sich abwendet und das Gebäude verlässt.

Plötzlich allein mit einem Rucksack voller Bücher und einem Herzen voller Widersprüche, mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten Kurs.

Ich hatte die Absicht, Einwände gegen Tyler zu erheben, mich zu widersetzen, diesen Bullshit mit mir machen zu lassen, doch einmal mehr ließ ich es geschehen, ohne meinen Protest laut werden zu lassen.

Jeder Schritt in Richtung meines Klassenzimmers lässt mich an die gemeinsamen Zeiten mit Emelie denken, deren Freundschaft die Schuljahre erst erträglich gemacht hatten.
Unsere Begegnung in diesen Gängen hatte uns zusammengebracht und eine Verbindung geschaffen, die unzertrennlich ist.

Als ich schließlich den Klassenraum betrete, werde ich von einer Welle aus Blicken und geflüsterten Kommentaren empfangen.
Die Lehrerin, eine freundliche Frau mittleren Alters, begrüßt mich mit einem Lächeln.

Mein Blick geht über die verschiedenen Gruppen von Schülern – die Streber in der ersten Reihe, die normalen Kids in der Mitte, die reichen Mädchen und die Bad Boys in der letzten Reihe.
Jede Gruppe hat eine eigene kleine Welt gebildet, getrennt und doch verbunden durch das gemeinsame Schicksal, hier zu sein.

Trotz der herausfordernden Ausgangssituation fand ich einen Platz in der Mitte des Raums, irgendwo zwischen den Menschen, zu denen ich nicht gehöre.


Als der Schultag endlich endet und die Schulklingel das Signal zur Freiheit gibt, packe ich meine Sachen zusammen und eile hinaus, getrieben von dem Wunsch, diesem Ort zu entfliehen.
Der Gedanke, dass ich morgen zurückkehren muss, ist ein kalter Schauer, der mir den Rücken hinunterläuft.

Draußen, in der relativen Freiheit des Schulhofs, atme ich tief durch, versuche, die Ereignisse des Tages hinter mir zu lassen.

Doch gerade als ich zur Bushaltestelle eilen will, durchbricht eine vertraute Stimme die Stille: »Hey Rotschopf!«

Ich drehe mich um und sehe ihn am Motorrad lehnen. Seine Stimme, sein Blick – in diesem Moment ist alles andere vergessen.
Die Verwirrung, die Frustration, der Ärger über die erzwungene Rückkehr in die Schule – all das verblasst angesichts der plötzlichen Nähe zu ihm.

In diesem Augenblick, als unsere Blicke sich treffen, wird mir klar, dass trotz allem, was geschehen ist, plötzlich bedeutungslos ist.

GangbattleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt