Alles ändert sich

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Der Unterricht wurde eingestellt, alle Prüfungen waren gestrichen. Einige Schüler wurden während der nächsten Tage aus Hogwarts abgeholt. Manche hatten lautstarke Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, da sie unbedingt noch bis zur Beerdigung bleiben wollten. Hogsmeade musste einen enormen Anschwung von Besuchern bewältigen: Alle wollten sie Dumbledore die letzte Ehre erweisen. Hexen und Zauberer kamen von überall her.
Draco hatte nicht mehr warten wollen, am liebsten wäre er noch am Morgen nach Dumbledores Tod zu seiner Mutter aufgebrochen. Doch Jocelyn zuliebe blieb er bis nach der Beerdigung. Jocelyn hatte sich nicht davon abbringen lassen. 
Sie saß alleine auf ihrem Bett im Slytherin Schlafsaal, den gepackten Koffer neben sich auf der Matratze. Wieder rollte sie die Pergament-Rolle aus, die ihr ein Hufflepuff-Drittklässler am Morgen nach Dumbledores Tod nach dem Frühstück in die Hand gedrückt hatte.
„Ich habe dich gestern nirgendwo finden können. Dumbledore…“, er hatte geschluckt und ihr wortlos die Pergament-Rolle in die Hand gedrückt, bevor er fluchtartig davon gegangen war.
Jocelyn rollte sie nun wieder aus.
Jocelyn, stand da in Dumbledores Handschrift, bitte komme so schnell es geht in mein Büro. 
Sie biss fest die Zähne zusammen. Wenn sie vielleicht im Schloss gewesen wäre, wenn sie die Nachricht bekommen hätte…Vielleicht wäre irgendetwas anders gelaufen?
Sie stand von ihrem Bett auf und strich ihr schlichtes, schwarzes Kleid glatt. Sie packte die Pergament-Rolle sorgfältig in ihren Koffer und blickte aus dem Fenster. Noch immer sang Fawkes. Der Gesang ging ihr durch Mark und Bein und stimmte sie gleichzeitig traurig und selig. In ungefähr einer Stunde ging die Beerdigung los. 
Sie musste es jetzt tun, bevor es zu spät war.
Langsam verließ Jocelyn den Raum. Der Teppich verschluckte das Geräusch ihrer Absätze. Sie war dankbar darüber, dass Draco gerade in seinem Schlafsaal war und seinen Koffer packte. Sie wollte ihm jetzt keine Erklärungen abgeben müssen.
Über dem Schloss hing eine unwirkliche Stille. Ihre Schritte waren so laut, dass es ihr selbst in den Ohren schmerzte. Es dauerte, bis sie endlich bei dem Gemeinschaftsraum der Gryffindors angekommen war. Sie hatte Glück. Nachdem sie ein paar Augenblicke gewartet hatte, schwang die Öffnung auf und ein paar Gryffindors drängten hinaus. 
„Wartet“, sagte Jocelyn. Ein Gryffindor- Mädchen blieb stehen und musterte sie abwägend. „Ich muss unbedingt mit Harry sprechen. Kannst du ihn holen?“
Sie zögerte, aber Häuserrivalität war zurzeit glücklicherweise nicht oberste Priorität. Sie verschwand wieder im Gemeinschaftsraum und als sie kurze Zeit später zurückkam, folgte ihr Harry. Sein Gesichtsausdruck war hart und ausdruckslos.
„Ja?“, fragte er bloß.
Jocelyn wartete, bis das Gryffindor-Mädchen verschwunden war und meinte dann: „Es tut mir so leid, Harry.“
Er blickte sie bloß an und sie wusste, dass sie das genauer ausführen musste.
„Dumbledores Tod…Ich weiß, wie viel er dir bedeutet hat.“
„Danke.“, murmelte Harry und sah zur Seite.
„Tut mir auch leid, dass ich so mies zu dir gewesen bin.“, sagte Jocelyn, weil sie das einfach loswerden musste. „Das hast du nicht verdient und das meiste davon war gelogen.“
„Spielt keine Rolle mehr.“, antwortete Harry bloß.
„Was ist passiert?“, fragte Jocelyn. Sie schluckte. „Dumbledore hat mich gebeten, in sein Büro zu kommen, doch ich habe die Nachricht erst am Morgen nach seinem…nach seinem Tod gelesen.“
Harry sah sie an. 
„Dumbledore hat das Versteck eines der Hokruxe aufgespürt. Wir sind zusammen hin, um ihn zu holen.“
„Und dann?“
„Es…es war nicht einfach, an den Horkrux zu kommen. Dumbledore war geschwächt, als wir auf dem Nordturm gelandet sind. Er sagte immer wieder, ich solle Snape holen.“, Harry verzog das Gesicht und pure Wut machte sich in seinen Zügen breit. „Doch dieser hat bereits auf uns gewartet.“
Jocelyn schüttelte den Kopf, fassungslos.
„Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich…“
„Er hat es aber. Er hat den Zauberstab auf ihn gerichtet und obwohl Dumbledore ihn noch angefleht hat…“, Harry brach ab und ballte die Hände zu Fäusten. Tränen glitzerten in seinen Augen hinter der Brille.
Jocelyn tat, was sie bereits hatte tun wollen, seit sie ihn dort neben Dumbledores Leiche hatte knien sehen. Sie trat vor und schloss fest die Arme um seinen bebenden Körper.
Erst wehrte er sich, aber irgendwann gab er nach und erwiderte die Umarmung.
„Weißt du, was das Schlimmste ist?“, murmelte er, das Gesicht in ihren Haaren vergraben.
„Was?“
„Der Horkrux ist eine Fälschung. All das…umsonst. Wenn Dumbledore nicht so geschwächt gewesen wäre, hätte er sich verteidigen können. Wenn wir nicht…“
„Pst…“, Jocelyn strich vorsichtig über seinen zuckenden Rücken. „Ich weiß, wie schwierig das ist, aber du musst damit aufhören. Es hätte vermutlich nichts geändert. Snape hat vorgehabt, Dumbledore zu töten. Ich denke, früher oder später wäre es ihm auch anders gelungen.“
In diesem Augenblick, in dem sie Harry umarmte, fühlte sie eine solche Wut auf Voldemort und seine Anhänger, dass sie am liebsten losgeschrien hätte. Es war alles so ungerecht. Sie dachte an all die genommenen Leben. Fiona, Harrys Eltern, Dracos Vater, Dumbledore…Das war nicht fair. 
„Es tut mir so leid.“, sagte sie erneut.
Harry löste sich etwas aus der Umarmung, um sie ansehen zu können. 
„Und jetzt?“, meinte er.
„Was meinst du?“, fragte Jocelyn etwas verunsichert.
„Was hast du vor?“
„Ich…Wir gehen zu Dracos Mutter. Sie ist in einem Versteck des Ordens untergebracht.“, antwortete Jocelyn und sah, wie ein Schatten über Harrys Gesicht huschte, als sie Dracos Name aussprach.
„Und du?“, fragte sie schnell.
Harry blickte kurz zu Boden, bevor er sie wieder ansah.
„Ich muss zu Ende bringen, was Dumbledore angefangen hat.“
Sie blickte in seine grünen Augen und erkannte all die Qual und Last in ihnen. Wieder dachte sie, dass das einfach nicht fair war.
„Allein?“
Harry zuckte mit den Schultern.
„Hermine und Ron haben mir angeboten…Aber ich will nicht, dass sie dieses Opfer auf sich nehmen.“
„Harry…“, sagte Jocelyn. Sie löste sich sanft aus der Umarmung. „Du kannst das nicht allein machen. Du solltest das nicht allein machen. Es ist ihre Entscheidung. Wenn sie dir helfen möchten, solltest du ihre Hilfe annehmen.“
Harry nickte und stopfte die Hände in die Tasche seiner Robe. Er war komplett in schwarz gekleidet, genau wie sie. 
Eine Zeit lang schwiegen sie. Jocelyn spürte Bedauern darüber, dass ihnen eine Freundschaft nie vergönnt gewesen war. Sie mochte Harry wirklich.
Irgendwann hob Harry wieder den Kopf.
„Ich…“, er wurde plötzlich rot und Jocelyn spannte sich an. Sie wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass sie nicht wollte, dass er weitersprach. „Ich weiß, dass das vermutlich ein sehr schlechter Zeitpunkt ist, aber ich…“
„Harry, nicht.“, presste sie hervor.
Er blickte sie nun fest an, auch wenn seine Wangen gerötet waren.
„Doch. Ich möchte, dass du es einmal hörst. Ich mag dich, Jocelyn. Ich mag dich sehr.“
Jocelyn spürte, wie sich ihr Hals zusammenschnürte. 
„Ich dich auch, Harry.“, sagte sie leise. Einen Augenblick tauchte etwas wie Hoffnung in seinen Augen auf. „Jedoch…“
„Jedoch nicht so sehr wie Malfoy.“, vervollständigte er bitter ihren Satz.
Jocelyn fühlte sich unfassbar erschöpft. Es war alles zu viel. Wie hatte nur innerhalb so kurzer Zeit alles zusammenbrechen können? Dumbledore war tot und damit selbst Hogwarts nicht mehr sicher. Sie waren nun nirgends mehr sicher vor Voldemort und seinen Anhängern.
„Es tut mir leid.“, sagte sie zum wiederholten Male.
„Schon gut.“, sagte Harry. 
Er wandte sich wieder zur Öffnung des Gemeinschaftsraumes um, doch bevor er darin verschwand, sagte er leise: „Pass auf dich auf, Jocelyn.“
Jocelyn musste plötzlich an Snape denken, wie er dasselbe zu ihr und Draco gesagt hatte. Er hatte schon gewusst, was er tun würde. 
„Du auch auf dich, Harry.“
Sie wandte sich zum Gehen, doch dann sagte sie noch: „Ich glaube daran, dass du es schaffen kannst.“
Harry seufzte. „Ich weiß nur nicht, wie.“
Er verschwand im Gemeinschaftsraum und die Öffnung klappte zu. Die dicke Dame betrachtete Jocelyn neugierig und diese lief nun eilig den Gang hinunter.

Als Jocelyn zurück in den Gemeinschaftsraum kam, hatten sich inzwischen die wenigen Slytherin dort versammelt, die noch bis zur Beerdigung geblieben waren. Draco musterte sie, als sie durch die Öffnung stieg und zu ihm herüberkam. Sie erwartete, dass er sie fragen würde, wo sie gewesen war, doch er schwieg. Irgendwann kam Slughorn herein. Er trug einen prunkvollen, langen und silbern bestickten smaragdgrünen Umhang. Sie hatten keinen Hauslehrer mehr, deshalb führte er sie hinaus auf das Gelände, wo die Beerdigung stattfinden würde.
Als sie die Eingangshalle erreichten, sah Jocelyn Madam Pince, die Bibliothekarin, neben Filch stehen. Die Sonne strich warm über Jocelyns Gesicht, als sie Slughorn in Richtung See folgten. Hunderte von Stühlen waren in Reihen aufgestellt worden. In der Mitte verlief ein Gang und vorne stand ein großer Tisch aus Marmor. Die Hälfte der Stühle war bereits besetzt. Jocelyn kannte nur die Hälfte der Anwesenden. Es waren Mitglieder des Phönixordens dabei, Madam Malkin vom Kleidergeschäft in der Winkelgasse und Ministeriumsvertreter- letztere waren gut zu erkennen an ihrem Aufzug. Jocelyn erblickte sogar den Zaubereiminister Cornelius Fudge. Die Schlossgespenster waren auch da, im hellen Sonnenlicht nur als leichter Schimmer zu erkennen. Draco und Jocelyn setzten sich nebeneinander ans Ende einer Stuhlreihe. Es kamen immer mehr Leute. Als letztes nahmen die Lehrer Platz. Plötzlich hörte Jocelyn Musik und erst dachte sie wieder an Fawkes, doch dieser war schon länger verstummt. Außerdem klang dies hier anders, als der Gesang von Fawkes. Es war fast schon überirdisch. Mit einem Mal erkannte Jocelyn, wo der Klang herkam. In dem klaren grünen, sonnenbeschienen Wasser des Sees schwammen dicht unter der Oberfläche Wassermenschen, ihre bleichen Gesichter kräuselten sich, während sie weiter diese fremdartigen Töne ausstießen.
Dann kam Hagrid den Gang herunter. Er weinte ganz leise. In den Armen trug er, eingehüllt in einen violetten, mit goldenen Sternen besetzten Samt, den toten Dumbledore.
Jocelyn konnte sich nicht rühren. Plötzlich griff jemand nach ihrer Hand und sie drehte den Kopf. Draco beugte sich kurz zu ihr und gab ihr einen sanften Kuss auf ihre tränennasse Wange. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte.

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