Sünde

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Als Jocelyn am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war sie im ersten Moment völlig desorientiert. Sie lag in einem weichen Bett und über ihr war eine schwere, warme Decke ausgebreitet worden. Sie richtete sich langsam auf und die Erinnerungen an den gestrigen Abend brachen wie aus heiterem Himmel wieder über sie hinein. Sie richtete sich hektisch auf und nachdem sie den Raum mit den Augen nach Draco abgesucht hatte, sah sie ihre Vorahnung bestätigt: Er war weg. Jocelyn schnappte sich ihre Stiefel und zog sie sich eilig über, dann stürmte sie aus dem Schlafsaal und polterte die Treppe in den Gemeinschaftsraum hinunter. Als sie schon auf dem halben Weg zur Tür war, erstarrte sie plötzlich, da sie aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung in einem der Sessel wahrnahm. Sie wirbelte herum und sah sich Draco gegenüber. Sie stieß die angehaltene Luft aus und die Panik fiel langsam von ihr ab.
Unsicher betrachtete sie ihn. Offenbar hatte er gerade erst geduscht: Seine weißblonden Haare waren noch nass und tropften auf sein weißes Hemd, wo sie es stellenweise durchsichtig erscheinen ließen.
Jocelyn fiel auf, wie dünn Draco eigentlich geworden war in den letzten Wochen; seine Wangenknochen stachen viel stärker hervor als sonst und als er sich nun streckte, rutschte sein Hemd ein wenig nach oben und gab den Blick auf seine herausstehenden Hüftknochen frei. Er stand auf und trat auf sie zu. Seine Stirn war gefurcht und er schien es um jeden Preis vermeiden zu wollen, sie anzublicken. Einige Augenblicke standen sie sich schweigend gegenüber. „Es tut mir leid.“, sagte er schließlich hölzern und unbeholfen. Als er es wagte, kurz aufzublicken, überbrückte sie die wenige Meter Abstand zwischen ihnen und schlang die Arme um seine Mitte. Tränen brannten in ihren Augen. „Nicht, du musst dich nicht entschuldigen.“
Er zog sie an sich und legte das Kinn auf ihren Kopf, während er zu verbergen versuchte, dass sich auch in seinem Hals ein Kloß gebildet hatte. Er öffnete den Mund und rang mit sich, aber schließlich brach er hervor: „Ich kann einfach nicht glauben, dass er wirklich weg ist.“
Jocelyn löste sich etwas aus der Umarmung, um ihn anschauen zu können und sagte leise: „Ich weiß, wie du dich fühlst. Ein Teil von dir hat es längst begriffen, aber der andere weigert sich, es als Wahrheit anzunehmen. Er versucht sich bis zum Schluss dagegen zu wehren.“
In ihren blassblauen Augen glitzerten Tränen und ließen sie wie Eiskristalle wirken.
Sie umfasste sein Gesicht, als er sich abwenden wollte, damit sie nicht die Tränen sehen konnte, die sich aus seinen Augenwinkeln gelöst hatten, und sagte eindringlich: „Aber es wird besser, hörst du? Am Anfang denkst du, der Schmerz bringt dich um, aber mit der Zeit - nein, hör mir zu -“, sie verstärkte ihren Griff, als er sich losreißen wollte, „Mit der Zeit wird es besser. Du wirst das überleben, so wie du alles überlebt hast, okay? Auch wenn es im Moment unvorstellbar ist.“
Die Tränen liefen ungehindert über seine Wangen und sie musste ihre ganze Kraft aufwenden, um nicht auch aufzuschluchzen.
Plötzlich presste er mit einer Heftigkeit, die sie überraschte, seine tränennassen Lippen auf ihre. Nachdem sie die Überraschung überwunden hatte, vergrub sie die Finger in seinen nassen Haaren und erwiderte den Kuss ebenso heftig. Draco zog sie zu sich und Jocelyn schmeckte den salzigen Geschmack von Tränen auf ihrer Zunge. Wenn das ihre einzige Möglichkeit war, ihm Trost zu spenden, würde sie ihr Bestes tun, sie zu nutzen.
Seine Lippen lagen verlangend auf ihren und seine Hände glitten zu ihren Hüften. Mit einer schnellen Bewegung hatte er sie hochgehoben und ihr entwich ein überraschtes Geräusch. Sie schlang die Beine um seine Mitte und so trug er sie die Treppe hinauf, seine Lippen verließen ihre keine Sekunde lang.
Oben sanken sie auf sein Bett, dessen Laken immer noch von ihr zerwühlt waren, und Draco streifte ihr mit einer einzigen Bewegung das Oberteil ab. Sie atmete zischend aus, als die kalte Luft ihren nackten Oberkörper traf und Dracos Augen glühten voller Begehren. Er beugte sich zu ihr herunter und erneut trafen sich ihre Lippen.

Danach überredete Jocelyn Draco dazu, einen kurzen Abstecher in der Großen Halle zu machen und sich etwas zu essen zu holen, bevor sie sich schließlich dick eingepackt über die verschneiten Schlossgründe zum See aufmachten, der um diese Jahreszeit zugefroren war. Während sie um das vereiste Gewässer herumspazierten, händchenhaltend und an ihren Toast kauend, überlegte Jocelyn, was wohl mit der Riesen- Krake, die sich der Sage nach in dem See befand, während des Winters passierte. War sie unter dem Eis eingesperrt? Unfähig, sich zu rühren und ihrer Freiheit beraubt? Jocelyn seufzte leise über ihre eigenen, sinnlosen Gedanken.
Sie hatte schon seit jeher eine zu rege Fantasie gehabt, hatte Tante Fiona immer gesagt.
Ihre Hand glitt zu dem Amulett an ihrem Hals, das einst ihrer Tante gehört hatte, und erneut erinnerte sie sich an den Moment, wo ihr Bruder es ihr umgemacht hatte. Die Erinnerung daran wärmte ihr Herz. Jetzt, wo sie an Lorcan dachte, erwachte jedoch auch die Angst um ihn sofort wieder zum Leben.
Ob es ihm gut ging? Sie könnte es nicht ertragen, ihn auch noch zu verlieren. Sie wollte ihn um jeden Preis daraus holen, aber wie zur Hölle sollte sie das anstellen? Vor allem, da sie nicht mit Sicherheit wusste, ob er überhaupt daraus wollte...
Aber er musste es einfach wollen- auch wenn vielleicht noch etwas von dem früheren Lorcan in ihm war, hatte er sich doch ganz offensichtlich verändert.
Sie erreichten die eingeschneite Bank, die unter den Weißbuchen stand, die den See säumten, und Draco wischte mit einer schnellen Handbewegung den Schnee zur Seite, bevor er sich darauf setzte und sie auf seinen Schoß zog. Er schlang fest die Arme um sie und sie lehnte sich an ihn.
Die nächsten Minuten hingen sie beide ihren Gedanken nach. Es war unnatürlich still hier draußen. Normalerweise war immer noch das Stimmengewirr der anderen Schüler zu hören- selbst wenn man das Schloss verließ, blieben die Stimmen ein ewiges Hintergrundgeräusch. Aber jetzt herrschte vollkommene Stille. Jocelyn sah gedankenverloren zum Schloss, das schneebedeckt vor ihnen aufragte, und bekam erst gar nicht mit, dass Draco zu sprechen anfing. „Ich muss meine Mutter sehen.“, sagte er wie aus heiterem Himmel.
Jocelyn wandte den Kopf und musterte ihn prüfend. Seine Augen waren umschattet und erst als er die folgenden Worte hervorstieß, merkte sie, dass seine Stimme voller Wut war: „Ich möchte wissen, wer meinem Vater das angetan hat.“
Jocelyn runzelte die Stirn und sagte vorsichtig: „Ist das...nicht klar?“
Dracos Augen verengten sich. „Ich glaube nicht, dass er es selbst getan hat. Er hat sicher jemanden vorgeschickt. Ich möchte wissen, wer es war.“
„Draco...“, begann Jocelyn beunruhigt. „Bist du sicher, dass dir das helfen wi...“
„Ja.“, unterbrach er sie ruppig.
Zögernd stand sie auf und folgte ihm zum Schloss. Er lief so schnell, dass sie Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Sie erreichten die Eingangstüren und Draco stürmte zwischen ihnen hindurch. Zwischendurch unternahm sie immer wieder Versuche, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber er schien sie gar nicht zu hören.
Angst kroch ihr Rückgrat hinauf. Was würde er wohl machen, wenn er erst einmal wüsste, wer seinen Vater getötet hatte?
Inzwischen lief er die Treppe hinunter, die in den Kerker führte, und Jocelyn eilte ihm hinterher.
„Jetzt warte doch mal!“, stieß sie atemlos hervor. Aber inzwischen hatte er schon Snapes Bürotür erreicht und hämmerte dagegen. Einige Sekunden später wurde die Tür so abrupt aufgerissen, dass Jocelyn automatisch zurückwich. Draco hingegen drängte sich rücksichtslos und ohne ein Wort an ihrem Hauslehrer vorbei in sein Büro. Snape sah ihn finster an, aber er schwieg. Er ist wirklich nachsichtig mit ihm, dachte Jocelyn verwundert und folgte Draco in Snapes Büro.
„Nun?“, fragte dieser mit hochgezogenen Brauen und schloss die Tür hinter ihnen.
„Wo ist meine Mutter?“, fragte Draco ohne Umschweife. Er wanderte ruhelos in Snapes Büro auf und ab.
Snape blickte ihn mit gefurchter Stirn an. „An einem sicheren Ort.“, sagte er langsam.
„Ich muss mit ihr reden.“
Snape öffnete den Mund, aber Draco unterbrach ihn unfreundlich: „Sofort!“
Jocelyn blickte unbehaglich zu Boden. Es fühlte sich falsch an, Draco so mit Snape reden zu hören- Snape, zu dem er immer aufgeschaut hatte und der ihnen schließlich schon einige Male geholfen hatte.
„Nein.“, sagte Snape knapp.
„Nein?“, wiederholte Draco und hielt das erste Mal inne damit, den Raum abzuschreiten, um Snape aufgebracht anzufunkeln.
„Wie meinst du, wie sicher ihr Versteck noch ist, wenn du es aufsuchst? Die Todesser versuchen deiner Mutter sowieso schon zu finden und werden damit rechnen, dass du sie besuchst. Das heißt, du würdest sie geradewegs zu deiner Mutter führen.“, sagte der, unbeeindruckt von Dracos Wut.
Draco stieß langsam die Luft aus und rieb sich die Schläfen. „Es ist wichtig.“, murmelte er und für einen Moment hatte seine Fassade Risse und ließ seine Verletzlichkeit durchblicken.
Snapes Stirn glättete sich und sein Gesichtsausdruck wurde fast schon freundlich.
„Draco“, begann er. „Wenn du nur eins, zwei Wochen warten könntest, bis es nicht mehr so gefährlich wäre, dann...“
„Ich möchte wissen, wer meinen Vater getötet hat.“, unterbrach ihn Draco unvermittelt.
Snape öffnete den Mund und schien nach Worten zu ringen. Es war das erste Mal, dass Jocelyn ihn sprachlos erlebte.
„Du weißt es.“, stellte Draco fest und seine Stimme zitterte kaum merklich.
Snapes Blick huschte zu Jocelyn, was diese verwirrt registrierte.
„Wer auch immer es gemacht hat, hat es im Auftrag des Dunklen Lords getan, Draco.“, sagte er schließlich widerstrebend.
„Wer? Wer war es?“, fragte Draco ungehalten.
„Spielt es eine Rolle? Es wird nichts an den Tatsachen ändern.“, erwiderte Snape scharf.
„Ich hab das Recht auf die Wahrheit!“, sagte Draco aufgebracht.
„Glaub mir, wenn ich dir sage, dass es besser für dich ist, es nicht zu wissen.“
Jocelyn zupfte unbehaglich an einem losen Faden ihres Umhangs.
„Draco, vielleicht sollten wir gehen...“
Aber er sah sie nicht an, er war völlig auf Snape fixiert.
„Ich will die Wahrheit.“, sagte er langsam und überdeutlich.
„Miss Fortescue hat recht, ihr solltet gehen.“, sagte Snape kalt und war mit zwei großen Schritten bei der Tür.
„Sag es mir!“, schrie Draco plötzlich. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und seine ganze Körperhaltung verriet seine innere Anspannung.
Snape erstarrte, mit der Hand an der Tür.
„Du möchtest also die Wahrheit hören?“, sagte er mit einer Stimme wie geschliffenes Glas.
Langsam wandte er sich zu Draco um, der seinen Blick trotzig erwiderte.
„Ich werde schon damit fertig werden.“, sagte er und einen Moment klang er wieder wie Draco Malfoy, der stolze, kaltherzige Slytherin.
Snape schenkte ihm einen kühlen Blick. „Es war Lorcan Fortescue.“
Jocelyns Inneres füllte sich mit Eiseskälte und in ihren Ohren begann es zu rauschen. Sie sah, wie Dracos Gesichtszüge entgleisten und sich die verschiedensten Emotionen auf seinem blassen Gesicht abzeichneten: Wut, Schock, Unglauben und wieder Wut.
„Nein“, sagte er leise.
„Wirst du jetzt damit fertig?“, fragte Snape ausdruckslos. Er öffnete die Tür und als er Draco noch einmal anschaute, zeichnete sich Mitleid in seinem Gesicht ab. Jocelyn, stumm vor Schreck, kam Snapes unausgesprochenen Forderung nach und ging an ihm vorbei aus der Tür. Sie spürte, dass Draco ihr folgte.
Auf dem Flur blieben sie stehen. Jocelyn hörte, wie Snapes Bürotür ins Schloss fiel und das Geräusch war so laut wie ein Kanonenschuss in der schwer lastenden Stille. Jocelyn traute sich nicht, Draco anzusehen. Sie hatte Angst, was sie in seinem Gesicht lesen würde.
Lorcan, dachte sie verzweifelt. Sie hatte gedacht, er hätte sich geändert, er würde beginnen, sich gegen den Dunklen Lord aufzulehnen. Aber andererseits...sie wusste, wie er sein konnte. Vielleicht hatte Lorcan gar keine andere Wahl gehabt.
„Er hat es nicht aus freien Stücken getan, das weißt du doch, oder?“, traute sie sich mit dünner Stimme zu fragen.
Draco schnaubte. „Er konnte mich doch noch nie leiden, dein toller Bruder. Ich bin mir sicher, er hat seine wahre Freude daran gehabt.“
Der Hass brodelte in seiner Stimme und Jocelyn schüttelte vehement den Kopf. „Nein, Draco! So ist er nicht...nicht mehr. Ich weiß, dass er das nicht freiwillig getan hat. Du weißt doch, wie es ist, wenn...“
„Nein“, unterbrach sie Draco mit schneidender Stimme. „Das weiß ich nicht. Ich habe noch nie jemanden umgebracht- im Gegensatz zu Lorcan. Du machst dir etwas vor, wenn du denkst, dass er sich geändert hat.“
Jocelyn spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Sie hielt sich kraftsuchend an dem Amulett und der Erinnerung daran, wie Lorcan es ihr umgemacht hatte, fest, während sie das erste Mal aufblickte. „Ich weiß, dass er sich geändert hat.“, sagte sie leise.
„Ach ja?“, fragte Draco mit einem harten Ausdruck in den Augen. „War das davor oder danach, als er dich mit dem Imperius- Fluch belegt und gezwungen hat, deine Finger ins Feuer zu halten, um ihm deine Gehorsamkeit zu beweisen? Oder als er tatenlos zugesehen hat, wie Greyback dich zerfleischt hat?“
Inzwischen standen Jocelyn die Tränen in den Augen. „Hör auf.“, flüsterte sie mit brüchiger Stimme.
Aber Draco dachte nicht einmal daran; seine Augen hatten wieder jenen zerstörungswütigen Ausdruck von vergangener Nacht.
Die Sonne brach aus den Wolken aus und schien gleißend hell durch die Fenster. Sie warf warm leuchtende Strahlen auf Dracos Gesicht, das nun voller Hohn war.
„Als er auf Slughorns Party den Todesfluch auf dich geschleudert hat? Oder dich mit Freude dem Dunklen Lord ausgeliefert hat?“, fuhr er gnadenlos fort.
Jocelyn versuchte nicht einmal mehr, noch etwas zu entgegen. Sie fühlte, wie sich eine Träne aus ihren Augenwinkeln löste.
„Er hat sich also geändert?“, fragte Draco mit einer Stimme, die vor Hohn triefte.
„Ich weiß, dass ich ihm nicht egal bin.“, brach sie hervor und atmete abgehackt durch.
„Dann bist du wohl die größte Lügnerin, die es gibt.“, sagte Draco hart.
Plötzlich stieg brennend heiße Wut in ihr auf. Sie richtete sich abrupt auf und blinzelte die Tränen weg, die ihr Sichtsfeld verschleierten.
„Ist das der Plan, Draco Malfoy? Jeden, der dich liebt, zu verletzen? Du bist nicht der einzige, der eine geliebte Person verloren hat- auch wenn du es immer vergessen magst, habe ich das Gleiche auch schon einmal durchgemacht! Ich bin nicht dein Feind, Draco, also behandle mich auch nicht so!“, sagte sie wütend.
Sie wandte sich um und wollte gehen, aber da fiel ihr noch einmal etwas ein. „Ich bin also die größte Lügnerin, die es gibt? Falsch, Draco. Ich habe einfach noch nicht aufgegeben, so wie du es anscheinend getan hast!“
Sie wandte sich endgültig um und stürmte die Treppe nach unten, während Draco ihr mit aufgewühlter Miene nachsah.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt