Die Dunkelheit ist nahe

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Das Haus lag hell beleuchtet vor ihnen. Musik drang zu ihnen heraus und dennoch war der Abend seltsam still und friedlich. Der Himmel glühte rötlich und die Bäume des Waldes am Ende der Straße hoben sich dunkel dagegen ab. Es war absolut windstill und die Luft war schwül, fast schon drückend. Jocelyn atmete tief durch. Sie war merkwürdig aufgewühlt, gepackt von einer unerklärlichen Aufregung. Draco verschränkte seine Hand mit ihrer und sie hob den Blick. Er beobachtete sie mit stummer Belustigung. „Auf was wartest du?“, fragte er. Jocelyn schüttelte den Kopf. „Auf nichts.“, erwiderte sie und verlor sich für einen Moment in seinen grauen Augen, in denen immerzu ein spöttischer Ausdruck zu liegen schien. Aber sie hatte sie auch schon voller Angst und Schmerz gesehen. Sie wusste, dass es einem Privileg gleichkam, dass er sie hinter seine Maske aus herablassender Gleichgültigkeit blicken lassen hatte. Es war ein Zeichen dafür, dass er ihr vertraute. Bei dem Gedanken machte ihr Herz einen freudigen Sprung. Er sieht wirklich gut aus heute, dachte Jocelyn. Er trug einen komplett dunklen Anzug, der einen schönen Kontrast zu seinen weißblonden Haaren und seiner blassen Haut darstellte. Seine ganze Haltung und seine Aufmachung strahlten geradezu vor Arroganz, Herablassung und Eleganz, aber inzwischen wusste sie, dass dies nur Fassade war. Sie gingen den schmalen Kiesweg zur Haustür herunter und Jocelyn nahm all ihren Mut zusammen und klingelte. Die Sekunden verstrichen und sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Plötzlich wurde die Haustür abrupt aufgerissen, so abrupt, dass sie erschrocken einen Schritt zurücktrat, und dahinter kam ein untersetzter Mann zum Vorschein, der einen viel zu engen braunen Tweed-Anzug trug und den Zauberstab auf sie gerichtet hatte. Seine kleinen Äugelein glitten misstrauisch über sie. „Was wollt ihr?“, fragte er mit argwöhnischer Miene. 
Jocelyn räusperte sich. „Mr. Slughorn, ich bin hier, weil meine Tante Fiona sie gekannt hat.“, sagte sie. 
Slughorns Miene veränderte sich. „Fiona, sagten sie?“, fragte er. 
Jocelyn nickte. „Fiona Fortescue. Ich bin Jocelyn Fortescue, ihre Nichte.“ 
Nun fiel auch der letzte Rest von Argwohn von Slughorn ab und auf seinem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. „Ach, du meine Güte! Fionas Nichte, ich glaube es nicht! Kommen Sie herein, kommen Sie herein!“, sagte er eifrig und trat einen Schritt zur Seite. „Sie natürlich auch, junger Mann!“, strahlte er Draco an, der den untersetzten Mann zweifelnd musterte. 
Sie traten nacheinander ein und Slughorn, der immer noch völlig aus dem Häuschen war, führte sie in den Salon- einen großen, hellbeleuchteten Raum, der gefüllt mit Menschen war, die fröhlich durcheinander redeten und zu der Musik tanzten, die aus den großen Lautsprechern in der Raumecke drang. Außerdem gab es ein riesiges Büfett, bei dessen Anblick Jocelyns Magen ein hungriges Knurren von sich gab. Draco erging es wohl gleich, da er ohne Umschweife darauf zu steuerte. Sie schüttelte grinsend den Kopf und wandte sich dann wieder zu Slughorn, der immer noch strahlte und nun aufgeregt einen schlaksigen Mann mit grauen, schütteren Haaren zu ihnen winkte. Als er zu ihnen herüberkam, platzte Slughorn eifrig hervor: „Du wirst nicht erraten, wer das hier ist!“ 
Der Grauhaarige musterte Jocelyn über den Rand seiner Hornbrille hinweg und warf Slughorn dann einen fragenden Blick zu. „Fionas Nichte!“, beantwortete Slughorn mit leuchtenden Augen die unausgesprochene Frage des Grauhaarigen. 
„Fiona Fortescue?“, fragte dieser ungläubig nach und musterte Jocelyn erneut, diesmal mit einem entzückten Gesichtsausdruck. 
„Oh, wow, meine Tante scheint ja eine kleine Berühmtheit gewesen zu sein.“, sagte Jocelyn, der das Ganze etwas unangenehm war. Slughorn gluckste, während der Grauhaarige eifrig nickte. 
„Fiona war die außergewöhnlichste Frau, die ich kannte. Wir waren perfekt zusammen.“, seufzte er. Oh Gott. Der Grauhaarige hatte mal etwas mit Fiona gehabt? Er hatte ein Überbiss und einen furchtbaren Silberblick! Im selben Moment tadelte sie sich selbst. Vielleicht hatte er dafür ja einen guten Charakter. Jocelyn lachte bemüht auf und überlegte fieberhaft, wie sie das Thema wechseln konnte, doch der Grauhaarige redete bereits weiter. „Wir waren verrückt nacheinander! Wir konnten über alles reden, teilweise haben wir Stunden über ein Thema diskutiert... Ich hätte Fiona jeden Wunsch erfüllt, wäre er auch noch so abwegig gewesen, aber…“, er verstummte, schlagartig ernüchtert. 
„Aber?“, traute Jocelyn sich vorsichtig nachzufragen. 
„Sie hat mich verlassen.“, sagte er mit Totengräberstimme. Slughorn klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Darüber ist er nie richtig weggekommen, der gute Aelfric.“, sagte er bedauernd. 
„Wann…war das denn?“, erkundigte sich Jocelyn höflich. „1936.“, antwortete Aelfric und Slughorn seufzte. „Wie alt waren Sie da? Zwölf?“, fragte Jocelyn, bemüht um einen ernsthaften Tonfall. 
„Ich war sechzehn!“, erwiderte Aelfric heftig. Er schien gekränkt. Jocelyn gab ein Geräusch von sich, von dem sie hoffte, dass es mitfühlend klang, und versuchte das aufsteigende Lachen zu unterdrücken. Plötzlich tauchte Draco neben ihr auf und hielt ihr einen gut gefüllten Teller hin. Jocelyns Gesicht erhellte sich, während sie hungrig den Teller entgegennahm. „Danke.“, sagte sie dankbar und biss herzhaft in eines der Häppchen. „Wir haben gerade über Aelfrics kurze Liaison mit Jocelyns Tante gesprochen. Unglückliche Geschichte.“, informierte Slughorn Draco. 
Dracos Augen blitzten spöttisch auf. „So?“ Aelfric schniefte. Slughorn wandte sich taktvoll einem anderen Thema zu. „Nun, und Sie sind wohl ein Malfoy?“, fragte er Draco freundlich. 
„Ja, bin ich.“, erwiderte er knapp. 
„Ich habe Ihren Großvater gekannt.“, sagte Slughorn und aus seiner Miene konnte Jocelyn herauslesen, dass er diesen wohl nicht sonderlich gemocht hatte. 
„Ich weiß, er hat immer nur Gutes über Sie erzählt.“, sagte Draco so ernsthaft, dass Jocelyn ihm beinahe geglaubt hätte, wäre da nicht der Spott in seinen Augen und das Zucken seiner Mundwinkel gewesen. 
„Tatsächlich?“, fragte Slughorn zerstreut. Er schien gar nicht zu merken, dass Draco ihn auf den Arm nahm. Im Gegenteil, er sah nun beinahe schuldbewusst aus. „Nun, er konnte sehr charmant sein.“, meinte er und es war nicht zu übersehen, dass er log. Draco feixte. 
In dem Moment erinnerte Jocelyn sich wieder an den Grund, weshalb sie überhaupt erst hierhergekommen waren, und räusperte sich. „Mr. Slughorn, könnte ich Sie eventuell mal unter vier Augen sprechen?“, fragte sie vorsichtig. Slughorn schien überrascht, aber er stimmte zu. Er führte sie aus dem Raum und Jocelyn sah über die Schulter zu Draco zurück. Ihre Blicke trafen sich und sie lächelte ihn an. Kurz darauf verschwand er aus ihrem Sichtfeld. Sie folgte Slughorn den Flur hinunter. Der untersetzte Mann öffnete eine Tür und sie betraten ein kleines, heimelig anmutendes Wohnzimmer. Slughorn ließ sich in einen gemütlichen roten Sessel neben einem großen Kamin sinken und bedeutete ihr, sich ihm gegenüber zu setzen. Jocelyn kam seiner Aufforderung nach und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Sie bekam den Eindruck, dass Slughorn eindeutig mehr Dinge besaß, als er brauchte. „Sie haben ein schönes Haus, Sir.“, sagte sie dennoch. 
Slughorn wirkte erfreut, aber dann legte sich ein Schatten auf sein rundliches Gesicht. „Leider muss ich bald umziehen.“, seufzte er. 
„Wieso?“, fragte Jocelyn verwundert. 
„Die Todesser! Ich kann nicht mehr zu lange an einem Ort bleiben. Dieses Fest wird wohl für eine Weile das Letzte gewesen sein.“, erwiderte er betrübt. 
Jocelyn verzog mitfühlend das Gesicht, obwohl sie nicht so recht verstand, was die Todesser von Slughorn wollen sollten. „Aber jetzt treten Sie doch sowieso bald Ihre Lehrstelle in Hogwarts an, oder nicht?“, sagte sie. 
Slughorns Miene wurde gequält. „Wenn das mal keine falsche Entscheidung war!“ 
„In Hogwarts ist es zumindest sicher.“, sagte Jocelyn. 
Slughorn schien immer noch besorgt. „Nun, über was wollten Sie mit mir reden, Jocelyn?“, fragte er nun und beugte sich neugierig vor. 
Jocelyn biss sich nervös auf ihre Unterlippe, während sie fieberhaft überlegte, wie sie das Thema anschneiden könnte. „Professor Dumbledore hat mir erzählt, dass Sie eine Erinnerung besitzen, die vielleicht der entscheidende Schlüssel zu Voldemorts Geheimnis sein könnte.“ 
Slughorns Blick wurde gehetzt. „Dumbledore hat Sie auf mich angesetzt, nicht wahr?“ 
Jocelyn schüttelte den Kopf. „Als Professor Dumbledore mir davon erzählt hat, habe ich mich selbst dazu entschlossen, diese Erinnerung zu beschaffen, denn ich habe das Gefühl, das würde meine Tante stolz machen.“, sagte sie leise. 
Slughorn schüttelte ruckartig den Kopf. „Ich kann Ihnen die Erinnerung nicht geben, Jocelyn!“, sagte er und seine Stimme war vor Panik einige Oktaven nach oben gerutscht. 
„Aber, Sir, wollen Sie denn nicht auch, dass ein Weg gefunden wird, Voldemort zu stoppen?“ 
„Er ist nicht zu stoppen!“, sagte Slughorn, der bei der erneuten Erwähnung des Namens Voldemort ganz blass geworden war. 
„Jeder hat eine Schwachstelle.“, widersprach Jocelyn. 
Slughorn erhob sich abrupt. „Tut mir leid, aber ich muss zurück auf das Fest. Meine Gäste...sie warten sicher...“, stammelte er. Und bevor sie noch etwas sagen konnte, war Slughorn bereits aus dem Raum geflüchtet. Jocelyn seufzte tief. Das hatte ja großartig funktioniert.

Burning DarknessWhere stories live. Discover now