Verräterin

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Die nächsten Tage fanden sie keine Zeit mehr für den Okklumentikunterricht. Alle Fünftklässler mussten zu einer Berufsberatung mit ihrem Hauslehrer gehen, sodass Jocelyn zehn unangenehme Minuten in Snapes Kerker überstehen musste, in der er durchgehend höhnische Bemerkungen fallenließ. Außerdem standen die ZAG- Prüfungen kurz bevor und Jocelyn verbrachte die meiste Zeit zwischen den Seiten von dicken Wälzern. Sie wusste, dass sie eigentlich weiter lernen sollte, ihren Geist zu verschließen, aber nach ihrer ersten Unterrichtsstunde schaffte sie es nicht, Draco nochmal danach zu fragen. Sie hatte Angst, was er noch erfahren könnte. Niemand hatte von ihrer Fähigkeit, mit Schlangen reden zu können, gewusst- nicht einmal Fiona, die ihr von allen am nahsten gestanden hatte. Jocelyn hatte Draco das Versprechen angenommen, es niemand zu sagen, auch wenn er den Grund nicht verstanden hatte. „Was ist so schlimm daran?“, hatte er verwirrt gefragt. 
„Das fragst du noch?! Nur schwarze Magier sind Parselmünder!“ 
Er hatte geschnaubt und verächtlich bemerkt: „Sankt Potter spricht auch Parsel, also gibt es wohl Ausnahmen.“ 
Doch damit hatte er auch nichts an ihrer Überzeugung ändern können, dass ihre Fähigkeit etwas schlechtes war. Eine gewisse Mutlosigkeit hatte Besitz von ihr ergriffen und sie erwischte sich einige Male bei dem düsteren Gedanke, dass sie sich das Lernen für die Prüfungen eigentlich sparen konnte, da ihre Zukunft doch sowieso schon vorherbestimmt war. Aber sie lernte trotzdem so gut sie konnte und als die Prüfer einige Tage später in Hogwarts eintrafen, war sie genauso aufgeregt wie die anderen. Sie hatte es sich angewohnt, neben Draco beim Essen in der Großen Halle zu sitzen und auch im Unterricht saßen sie meistens nebeneinander. Sie wusste nicht wirklich, ob sie ihn als einen Freund bezeichnen konnte, aber er war der einzige, bei dem sie sich nicht verstellen musste. In seiner Gegenwart fiel es ihr leicht, ihre übliche Anspannung fallen zu lassen und mit der Zeit hatte sie sich sogar an seine spöttisch- überhebliche Art gewöhnt. Als sie am Morgen des ersten Prüfungtages in die Große Halle kam, ließ sie sich mit kümmerlichen Miene auf ihren üblichen Platz neben ihm am Slytherin- Tisch fallen und verkündete verzweifelt: „Ich weiß nichts mehr!“ 
Draco hob belustigt eine Augenbraue und sagte: „Dir auch einen guten Morgen, Fortescue.“ 
„Nenn mich nicht so, du weißt, dass ich mein Nachname und alles, wofür er steht, hasse!“, fauchte sie gereizt. Dann seufzte sie und stützte den Kopf auf die Handfläche. „Tut mir leid.“, sagte sie schuldbewusst. „Ich habe nur das Gefühl, dass ich total versagen werde in der Prüfung!“ 
„Das nennt man Prüfungsangst, Lyn.“, sagte Draco altklug. Lyn, der Spitzname, den er ihr gegeben hatte, nervte sie fast genauso wie „Fortescue“, aber sie sparte sich mit Mühe den Kommentar. „Bist du denn gar nicht nervös?“, fragte sie anklagend. 
Draco zuckte die Schultern. „Ich mach mir nicht mehr viel aus solch banalen Dingen wie Noten.“ „Banal?“, entrüstete sie sich. Draco senkte den Kopf und sagte so leise, dass nur sie es hörte: „Ich denke kaum, dass den Dunklen Lord meine Schulbildung interessiert.“ 
Ein Schauer glitt über ihren Rücken, als er sie wieder an die Zukunft erinnerte, die ihm bevorstand, und sie sah ihm mit zugeschnürtem Hals in die hellgrauen Augen, in denen ein bitterer Ausdruck lag. Ohne darüber nachzudenken legte sie ihre Hand auf seine und sagte eindringlich: „Du kannst nicht zulassen, dass sie dir das antun!“ 
„Das ist eine Ehre, Lyn.“, sagte er ausdruckslos und sah mit undeutbaren Gesichtsausdruck hinunter auf ihre verschränkten Hände. Hastig zog sie die Hand weg. „Eine Ehre?“, wiederholte sie fassungslos. Er runzelte unwillig die Stirn und es war ihm anzusehen, dass er nicht weiter darüber reden wollte. Leise seufzend ließ sie das Thema fallen. Sie zwang sich, etwas zu essen und dann verließen sie mit den anderen die Große Halle, die nun für die erste Prüfung, Theorie der Zauberkunst, vorbereitet werden würde. Sie lief unruhig auf und ab und blätterte fieberhaft in „Lehrbuch der Zaubersprüche“, während Draco gelassen an der Wand lehnte und sie mit einem Ausdruck stummer Belustigung in den Augen beobachtete. Die anderen taten es ihr gleich, oder ließen sich abfragen und es herrschte ein hektisches Durcheinander, in dem jeder noch einmal versuchte, sich den Stoff einzuprägen. Als schließlich die Tür zur Großen Halle geöffnet wurde, war sie kaum wieder zu erkennen. Es waren lauter kleine Schreibpulte aufgestellt worden und nervös suchte Jocelyn sich ein Platz möglichst weit hinten. „Sie können anfangen“, sagte Professor McGonagall und kippte ein riesiges Stundenglas um. Eine konzentrierte Stille breitete sich aus. Drei Plätze hinter ihr lümmelte Draco mit gelangweiltem Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl und zwinkerte ihr feixend zu. Sie musste leicht lächeln, da fiel ihr wieder ein, dass sie sich in einer Prüfung befand und sie wandte sich hastig nach vorne. Auf der Unterlippe kauend las Jocelyn sich die erste Aufgabe durch und zu ihrer Erleichterung wusste sie die Antwort. Als es Zeit zum Abgeben war, lehnte sie sich ausatmend in ihrem Stuhl zurück, da es sehr viel besser gelaufen war, als sie erwartet hatte. Ihre praktische Prüfung am Nachmittag verlief ebenfalls ganz gut, obwohl sie einen Zauberspruch verwechselte, sodass sich ihr Prüfer Professor Tofty von den Scherben des Weinglases in Sicherheit bringen musste, das auf einmal anschwoll und dann in unzählige Teile zerbrach. Im Laufe der Woche brachte sie die Prüfungen in Verwandlung, Kräuterkunde und Verteidigung gegen die dunklen Künste hinter sich, die alles in allem ganz gut verlaufen waren. Als sie am Freitag, der frei war für sie, mit Draco hinunter zum See lief, war sie einfach nur erleichtert, eine Pause von dem Lernen zu haben. Das Wochenende lag vor ihnen und man merkte, dass es Juni geworden war. Die Rasenflächen hatten sich sattgrün verfärbt und die Sonne brannte warm vom wolkenlosen Himmel und glitzerte auf der Oberfläche des Sees. Jocelyn legte sich träge ins Gras und beobachtete, wie ein paar Rawenclaw- Mädchen ihre Strümpfe und Schuhe auszogen und mit hochgekrempelten Hosenbeinen bis zu den Knien ins Wasser gingen. Dabei lachten sie so laut und ausgelassen, dass sie unwillkürlich auch grinsen musste. Draco, der neben ihr an einem Baum gelehnt saß, fragte mäßig interessiert: „Was ist so lustig?“ 
Sie wandte den Kopf, um den blondhaarigen Slytherin anschauen zu können und stockte. Das reflektierte Sonnenlicht ließ seine hellen Augen funkeln und als sie ihr Blick über seine aristokratischen Züge gleiten ließ, wurde ihr plötzlich klar, was Pansy an ihm fand. 
„Was ist?“, mit einem leichten Grinsen beugte er sich nach vorne. Hastig schloss sie die Augen. „Nichts.“, murmelte sie beschämt. 
Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei und am Montag stand die Zaubertrankprüfung an. Snape schlich die ganze Zeit um ihren Tisch herum und machte sie damit so nervös, dass sie sich am Ende sicher war, dass sie durchfallen würde, obwohl die praktische Prüfung gar nicht so schlecht lief. Jocelyn war unglaublich froh, als sie schließlich nur noch eine Prüfung - Zaubereigeschichte - zu schreiben hatten. Aber ihr Kopf war völlig leer, als sie die erste Frage der letzten Prüfung las. Dabei hatte sie die Koboldaufstände doch so gut gelernt! Erschöpft schloss sie die Augen und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Federn kratzten auf Pergament und vorne rieselte leise der Sand durch das große Stundenglas...Plötzlich erklang ein Schrei und sie fuhr so erschrocken hoch, dass ihr Tintenfass umfiel. Harry war seitlich von seinem Stuhl gekippt. Tumult brach aus in der Großen Halle. Professor Tofty eilte zu Harry herüber und half ihm auf. Sein Gesicht war kreidebleich und Professor Tofty packte ihn am Arm und führte ihn hinaus in die Eingangshalle. 
Als der ältere Mann ein paar Minuten später zurück kam und Harrys Prüfung einsammelte, versuchte er die wild durcheinander redenden Schüler zum Schweigen zu bringen. „Schreiben sie weiter, ihre Zeit ist bald um!“ 
Jetzt fiel es Jocelyn noch schwerer, sich zu konzentrieren. Am Ende hatte sie zwar einiges geschrieben, aber sie hatte keine Ahnung, ob irgendetwas davon stimmte. 
Schließlich sammelte Tofty die Prüfungsblätter ein und sie verließ mit Draco die Große Halle. „Potter wollte wohl mal wieder ein bisschen Aufmerksamkeit.“, schnaubte er verächtlich. 
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. „Was er wohl hatte?“, sprach sie ihre Gedanken ausversehen laut aus. Draco wandte sich zu ihr um und sah sie mit schmalen Augen an. „Warum interessiert dich das überhaupt?“, fragte er finster. „Tut es nicht.“, sagte sie hastig. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich in Zukunft wie eine echte Slytherin zu verhalten, denn alles andere hatte ihr bisher nur Schwierigkeiten bereitet. „Du hast recht, wahrscheinlich hat er wirklich nur Aufmerksamkeit gesucht.“, fügte sie also verächtlich hinzu. Draco warf ihr einen scharfen Blick zu, aber zum Glück beließ er es dabei.

Burning DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt