Ziel, Wille, Bedacht

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Es wurde Februar und der Schnee rund um Hogwarts schmolz. An seine Stelle trat eine kalte, trübe Nässe. Es regnete beinahe unaufhörlich und der Regen verwandelte alles in eine rutschige, schlammige Fläche. Die erste Apparierstunde der Sechstklässler, die auf einen Samstagmorgen angesetzt war, damit kein regulärer Unterricht versäumt wurde, fand deshalb auch in der Großen Halle und nicht draußen statt. Als Jocelyn mit Draco die Halle betrat, sah sie, dass die Tische verschwunden waren. Einzig der Lehrertisch stand noch an seinem Platz und davor hatten sich die vier Hauslehrer McGonagall, Snape, Flitwick und Sprout versammelt. Ein Stück abseits von den Professoren stand ein schmächtiger Zauberer mit strähnigem Haar, der wohl der Apparierlehrer war, den das Ministerium geschickt hatte. 
„Guten Morgen“, sagte er, als alle Schüler in der Halle versammelt waren und die Hauslehrer Ruhe befohlen hatten. „Mein Name ist Wilkie Twycross und ich werde für die nächsten zwölf Wochen Ihr ministerieller Apparierlehrer sein. Ich hoffe, dass ich Sie innerhalb dieser Zeit auf Ihre Apparierprüfung vorbereiten kann. Wie Sie vielleicht wissen, ist es normalerweise unmöglich, innerhalb von Hogwarts zu apparieren oder zu disapparieren. Der Schulleiter hat diesen Bann für eine Stunde ausschließlich in der Großen Halle aufgehoben. Sie können nicht aus den Mauern dieser Halle heraus apparieren und es wäre unklug, dies zu versuchen. So, und nun schaffen Sie vor sich bitte etwa zwei Meter Platz.“
Bei Goyle kamen wohl nur die Worte „Platz schaffen“ an, da er alle Schüler um sich herum grob beiseite schubste. Jocelyn, die ebenfalls einen Schubser abbekam, krachte unsanft gegen ihren Vordermann Blaise, was dieser mit einem scharfen Blick quittierte. Snape schritt durch ihre Reihen und verlangte mit kalter Stimme, dass sie ruhig sein sollten. Langsam trat auch bei den restlichen Schülern Ruhe ein und Twycross schwang seinen Zauberstab. Augenblicklich tauchte vor jedem Schüler auf dem Boden ein altmodischer hölzerner Reifen auf. 
„Beim Apparieren ist vor allem die Goldene Dreierregel von großer Bedeutung: Ziel, Wille, Bedacht!“, rief Twycross. „Schritt eins: Fixieren Sie Ihre Gedanken fest auf das gewünschte Ziel, in diesem Fall das Innere des Reifens.“
Jocelyn tat, was ihnen befohlen worden war, und versuchte, an nichts anderes zu denken, als an das Innere ihres Reifens. 
„Schritt zwei: Fokussieren Sie ihren Willen darauf, den Raum, den Sie sich vorstellen, einzunehmen! Lassen Sie Ihren Wunsch, sich dort hinzubegeben, von Ihrem Kopf in jede Zelle Ihres Körpers strömen!“
Erneut trat konzentrierte Stille ein, die aber wenig später von Goyle unterbrochen wurde, der vor Anstrengung aufgrunzte. Als Jocelyn ihm einen kurzen Blick zuwarf, sah sie, dass er ein furchtbar verkniffenes Gesicht machte und die riesigen Hände zu Fäusten geballt hatte. Sie fing Dracos Blick auf und sie prusteten unterdrückt los. 
Eilig wandte sie sich wieder ihrem Reifen zu und wenig später rief Twycross: „Und jetzt Schritt drei, aber erst wenn ich den Befehl gebe…drehen Sie sich auf der Stelle und erspüren Sie Ihren Weg hinein ins Nichts, bewegen Sie sich mit Bedacht! Nun, auf mein Kommando…eins, zwei, drei-“
Jocelyn drehte sich schnell auf der Stelle, stolperte über ihren Reifen und krachte erneut gegen Blaise. „Tut mir leid!“, rief sie beschämt, aber glücklicherweise war sie nicht die einzige. In der ganzen Halle torkelten Leute und Neville lag flach auf dem Rücken.
Der zweite Versuch verlief auch nicht gerade besser, aber zumindest spürte Jocelyn bereits einen leichten Anflug des beengenden Gefühls, das mit dem Apparieren einherging. 
Zwei Versuche weiter unterbrach ein fürchterlicher Schmerzensschrei ihre Konzentration. Eine Hufflepuff war zersplintert und die Hauslehrer beeilten sich, sie wieder mit ihrem Bein zu vereinen.
Nach dem Vorfall graute es Jocelyn ein wenig davor, es weiter zu versuchen. Sie war nicht erpicht darauf, dass ihr auch noch ein Körperteil abhandenkam.
Deshalb war sie sehr froh, als Twycross endlich die Stunde beendete.
„Und, wie war's bei dir?“, fragte Jocelyn Draco, als sie sich mit den anderen Slytherin in Richtung Eingangshalle begaben. 
„Schmerzhaft. Ich habe Goyles Ellenbogen in die Rippen bekommen.“, mit leidender Miene rieb er sich die Seite und sie lachte auf. „Autsch.“
Als sie wieder in ihrem Gemeinschaftsraum waren, holte Jocelyn mit missmutiger Miene den Zauberstab hervor, den McGonagall ihr als Ersatz für ihren abhanden gekommenen Zauberstab gegeben hatte und musterte ihn genauer. Sie hatte keine Ahnung, wem er mal gehört hatte, aber sie nahm an, dass es der Zauberstab eines ehemaligen Schülers war. Er war bereits ziemlich abgegriffen und fühlte sich plump und dick in ihrer Hand an. Sie vermisste ihren eigenen Zauberstab, der sich immer wie eine Verlängerung ihrer Hand angefühlt hatte, mit schmerzlicher Intensität. Da von Lorcan immer noch kein Lebenszeichen gekommen war, wurde es auch immer unwahrscheinlicher, dass ihr Bruder ihn für sie hatte retten können. 
Seufzend richtete sie den geliehenen Zauberstab auf das Kaminfeuer und murmelte: „Aguamenti“. Ein dünner Wasserstrahl schoss aus der Spitze des Stabes, aber schon nach wenigen Sekunden verlor er immens an Kraft und zuletzt tropfte der Zauberstab nur noch wie ein kaputter Wasserhahn. 
„Beeindruckend“, bemerkte Draco, der sie beobachtet hatte, mit gut hörbarer Belustigung in der Stimme. Sie schoss ihm einen finsteren Blick zu und startete einen neuen Versuch. „Lumos“, sagte sie und der Zauberstab fing an, zu leuchten. Jedoch war das Licht so schwach, dass man es kaum sehen konnte. Frustriert peitschte sie mit dem Zauberstab durch die Luft, wodurch das Kaminfeuer mit einem gefährlichen Zischen aufloderte. „Ach, verdammt!“, fluchte sie.
„Gib mal her“, sagte Draco und nahm ihr den Zauberstab von McGonagall aus der Hand. Er richtete ihn seinerseits auf das Feuer und sagte: „Aguamenti“. Zu Jocelyns großem Verdruss war sein Wasserstrahl so kraftvoll, dass er auf Anhieb das ganze Feuer löschte. „Wie machst du das?“, fragte sie mürrisch. „Du bemühst dich nicht richtig.“, sagte er gedehnt. „Du musst dich auf das Ziel konzentrieren, auf deinen Willen- und mit Bedacht vorgehen.“ Seine grauen Augen blitzten spöttisch, als er Twycross nachäffte. Sie grinste. 
„Wie wäre es, du gibst mir deinen Zauberstab und du kannst McGonagalls bekommen, hm?“, schlug sie mit unschuldiger Miene vor. 
Draco schnaubte. „Niemals, Fortescue.“
„Dachte ich mir.“, seufzte Jocelyn und streckte mit Leichenbittermiene die Hand aus, um den abgegriffenen Zauberstab zurückzunehmen. 
Draco stand von seinem Sessel auf. „Ich muss mich umziehen, in einer halben Stunde ist Quidditch-Training.“, sagte er. 
„In Ordnung.“, murmelte sie und schlug das Verteidigung gegen die Dunklen Künste- Schulbuch auf. Snape hatte ihr für die nicht gemachten Hausaufgaben statt des erwarteten Nachsitzen eine Strafarbeit aufs Auge gedrückt, die drei Pergamentrollen lang sein musste. Sie kramte ihre Feder aus der Schultasche und fing an zu schreiben. Snape hatte vorgegeben, dass sie über die Unverzeihlichen schreiben sollte und Jocelyn fühlte sich etwas schuldig, als sie aufschrieb, warum der Imperius-Fluch unverzeihlich war. Schließlich hatte sie ihn vor einigen Tagen selbst angewendet, als sie unerlaubt das Schulgelände verlassen hatte. Ihr kam der Verdacht, dass Snape das Thema für ihre Strafarbeit nicht ohne Grund ausgesucht hatte. 
Die nächsten Minuten lang war sie völlig vertieft, sodass sie Dracos Rückkehr erst bemerkte, als er die Hände links und rechts auf den Lehnen ihres Sessel abstützte. Sie blickte auf und er sagte: „Also, kommst du?“ 
„Wohin?“, wollte Jocelyn begriffsstutzig wissen, in Gedanken immer noch halb bei ihrem Aufsatz. Draco richtete sich auf und schulterte seinen Besen, als er antwortete: „Zum Training.“
Er schien wie selbstverständlich anzunehmen, dass sie mitkommen wollte und obwohl sie lieber in Ruhe an ihrer Strafarbeit weitergearbeitet hätte, gab sie sich einen Ruck und stand auf. Sie steckte den unfertigen Aufsatz und ihr Schreibzeug zurück in ihre Tasche und hing sich diese über die Schulter, während sie Draco durch die Öffnung in der Wand nach draußen folgte. Im Schloss herrschte Ruhe, denn die meisten zogen heute ihren Gemeinschaftsraum dem nassen, schlammigen Schulgelände vor. Jocelyn schauderte, als sie durch das Schlossportal nach draußen traten. Schon nach wenigen Schritten fühlten sich ihre Kleider durch den stetigen Nieselregen unangenehm klamm an und ihre Haare klebten an ihren Wangen. „Warum genau hast du das Training eigentlich nochmal für heute angelegt?“, fragte sie Draco zitternd. Er warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu. Im Gegensatz zu ihr schien er förmlich vor Energie zu sprühen. „Hmm, vielleicht, weil in drei Wochen das Spiel ist?“, spöttelte er und legte den Arm um sie. „Du willst doch auch, dass wir Potter und seine Mannschaft besiegen, oder?“, hauchte er ihr ins Ohr und sie gab sich alle Mühe, nicht schuldbewusst zusammenzuzucken, als ihr ohne Vorwarnung die Erinnerung an das gestrige Treffen mit Dracos Erzfeind in den Sinn kam. Bei, Merlin, wir haben doch nur geredet, dachte sie, ärgerlich auf sich selbst. Aber es war nicht abzustreiten, dass Draco fuchsteufelswild wäre, wenn er es herausbekommen würde.
„Natürlich.“, murmelte sie hastig. Vielleicht zu hastig, denn Draco verstärkte seinen Griff und zog sie noch enger zu sich. „Ich vertrau' darauf, dass du mich anfeuerst bei dem Spiel.“, sein warmer Atem strich über ihre klamme, kalte Haut und sie drehte den Kopf und schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Das schien ihn zu besänftigten. Wenig später hatten sie das Quidditch-Feld erreicht, das nicht gerade den perfekten Ort zum Trainieren bot, da es schlammig und dreckig war. Während Jocelyn in Richtung der Tribünen lief, ging Draco in den Umkleideraum, wo bereits seine Mannschaft auf ihn wartete. Sie suchte sich einen Platz in der Mitte der Tribüne und versuchte ein Wärmezauber, der kläglich misslang. Ihren Aufsatz weiterzuschreiben konnte sie jetzt auch vergessen; die Tinte würde direkt verlaufen bei dem Regen. Zitternd schlang sie die Arme um sich und wenig später kam Draco wieder aus der Umkleide, dicht gefolgt von der Slytherin- Hausmannschaft. Während sie sich bereit zum Abflug machten, ließ Jocelyn den Blick über die Mannschaftsmitglieder gleiten. Sie waren alle auffallend groß und stämmig. Draco war noch der schmalste von ihnen, aber bei Suchern spielte die Statur sowieso keine Rolle. Nacheinander stießen sich die Slytherins vom Boden ab und das Training begann. Draco war ein unnachgiebiger Kapitän. Sie bekam im Laufe der nächsten Stunde des Öfteren mit, wie er seine Mannschaftskollegen scharf zurechtstutzte und sie anblaffte, wenn sie Fehler machten. Aber niemand wagte es, sich darüber zu beschweren. Draco hatte unzweifelhaft etwas an sich, dass dafür sorgte, dass man ihm nicht widersprechen wollte. Obendrein war er auch ein wirklich guter Spieler, er war unglaublich flink und wendig in der Luft. Jocelyn bezweifelte, dass sie jemals dazu in der Lage wäre, so gut zu fliegen wie er. In der Pause landete er direkt neben ihr auf der Tribüne. Er war vollkommen durchnässt und schlammig, aber seine Augen leuchteten und seine Wangen waren vor Aufregung und Kälte gerötet. Er saß sich neben sie und rieb seine Finger aneinander, die ganz gefroren aussahen. „Und, was sagst du?“, wollte er mit einem kleinen Grinsen wissen. Irgendetwas verriet ihr, dass ihm viel an ihrer Antwort lag. Es war schließlich das erste Mal, dass sie bei einem Training von seiner Mannschaft dabei war. Seine grauen Augen glitten aufmerksam über ihr Gesicht und Jocelyns Mundwinkel hoben sich. „Du bist wirklich gut.“, sagte sie ehrlich und obwohl er sich alle Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen, huschte ein Ausdruck von Stolz über sein Gesicht. „Tja, Potter wird sich warm anziehen müssen.“, sagte er beiläufig. Dann beugte er sich zu ihr herüber und nahm ihr Gesicht zwischen seine kalten Hände. Sachte strich er mit den Daumen über ihre Wangen, bevor er den Kopf senkte und seine Lippen drängend auf ihre drückte. Sie schloss die Augen und versank in dem Kuss. Er roch nach Regen und seine Zunge, die warm über ihre kühle Unterlippe glitt, ließ ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen. Sie krallte sich in der Vorderseite seines Quidditch-Umhangs fest und zog ihn noch dichter zu sich. Seine Hand wanderte in ihre nassen Locken und er öffnete ungestüm ihre Lippen und drang mit seiner Zunge in ihren Mund ein. Ihr Atem wurde unregelmäßig und ihr war gleichzeitig kalt und heiß, während er ihre Zunge mit seiner umspielte. „He, Malfoy! Spielen wir irgendwann auch mal wieder weiter?“, rief Montague plötzlich zu ihnen hinauf und sie lösten sich von einander. Jocelyn blickte hinunter auf das Feld, wo Montague und der Rest der Mannschaft stand und mit spöttischen Mienen zu ihnen hinaufschauten und ihre Wangen wurden warm. Draco grinste ungerührt und murmelte: „Später“, in ihr Ohr, was sie noch röter werden ließ, bevor er das Training fortsetzte.

Burning DarknessWhere stories live. Discover now