Arresto Momentum

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Die nächsten Tage war Jocelyn so mit den Vorbereitungen für die ZAG- Prüfungen beschäftigt, dass sie nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte, wofür sie geradezu dankbar war. Die Lehrer gaben ihnen fast keine Hausaufgaben mehr auf – außer Snape natürlich, der ihnen mal wieder einen besonders langen Aufsatz aufgebrummt hatte – und so verbrachte sie ihre Nachmittage damit, den Stoff der einzelnen Fächer zu wiederholen. An diesem Tag hatte sie sich wie so öfters zum Lernen in die Bibliothek verzogen und brütete gerade über ihren Aufzeichnungen zu den Koboldaufständen, die sie in Geschichte der Zauberei behandelt hatten, als jemand den Stuhl neben ihr zurückzog und sich darauffallen ließ.
„Fortescue", grüßte Draco mit seinem typisch spöttischen Lächeln.
Jocelyn seufzte. „Malfoy", sagte sie ohne jegliche Begeisterung. Er beugte sich herüber und besah sich für einige Augenblicke ihre Aufzeichnungen. Dann bemerkte abwertend: „Den Stuss brauchst du später nie wieder."
Sie verdrehte die Augen. „Ach ja? Du vielleicht nicht, aber ich habe später mal mehr vor, als ein Todesser zu werden."
Kurz zuckte ein Ausdruck von Wut über sein Gesicht. Er sah ihr in die Augen und sie zuckte zusammen, als sie die plötzliche Kälte in seinen wahrnahm.
„Tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint.", sagte sie und senkte unbehaglich den Blick. Sein Schweigen lastete schwer zwischen ihnen und sie suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln. „Bald ist doch das Quidditchspiel, oder?", brachte sie schließlich wenig einfallsreich hervor.
Draco hob eine Augenbraue und fragte halb belustigt, halb herablassend: „Seit wann interessierst du dich für Quidditch?"
Jocelyn zuckte vage mit den Schultern. „Ich wollte nur diese ungemütliche Stille brechen.", erwiderte sie ohne nachzudenken. Dann sah sie erschrocken zu Draco, da sie eigentlich nicht so ehrlich hatte sein wollen. Seine Mundwinkel zuckten. „Äh, ich meine, es ist ja nicht so, als ob ich mich gar nicht für Quidditch interessieren würde..." Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. „Ach sei doch still!", murrte sie.
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und betrachtete sie mit einem beunruhigenden Funkeln in den grauen Augen. „Kannst du fliegen?", fragte er langsam.
Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Vergiss es!"
„Na, komm schon, Fortescue. Willst du's nicht mal probieren? Oder bist du zu feige?"
Sie zog gereizt die Augenbrauen zusammen und sagte scharf: „Ich bin nicht feige, Malfoy." Sein Grinsen verriet ihr, dass er genau diese Reaktion bei ihr auslösen hatte wollen.
„Na dann, los geht's.", Draco stand auf und Jocelyn sah ihn ungläubig an. „Jetzt? Aber ich muss lern...", als er schon wieder auf diese nerventötende Art lächelte, verstummte sie abrupt und erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl. Sie packte ihr Lernzeug in die Tasche und folgte Draco aus der Bibliothek, wobei sie den selbstzufriedenen Ausdruck in seinem Gesicht zu ignorieren versuchte. Als sie wenige Augenblicke später aus dem Schloss traten und ihr beißend kalter Wind entgegenschlug, schimpfte sie sich selbst eine Idiotin, weil sie sich auf so etwas eingelassen hatte. Doch sie schwieg eisern und lief neben Malfoy über das verlassen wirkende Schlossgelände in Richtung des Quidditchfeldes. Sie merkte, dass er außerordentlich vergnügt wirkte, was sie noch mehr ärgerte. Dafür würde sie ihn büßen lassen! Sie war schon völlig durchgefroren, als sie einige Minuten später das Quidditchfeld betraten. Sie wartete am Spielfeldrand, während Draco zwei Besen holte. Sie trat unruhig und vor Kälte zitternd von einem Fuß auf den anderen, als er wiederkam und ihr mit einem amüsierten: „Was ist los, Fortescue? Hast du etwa Angst?", den Besen in die Hand drückte.
„N-niemals.", entgegnete sie stur mit klappernden Zähnen. Er lachte auf und sie schwang sich mit einer trotzigen Bewegung auf den Besen. „Was ist? Willst du ewig hier rumstehen?", fragte sie hochmütig und stieß sich vom Boden ab. Sie schoss blitzschnell nach oben und musste in letzter Sekunde einen erschrockenen Aufschrei unterdrücken. Die Wahrheit war, dass sie in ihrem Leben bisher nur dreimal geflogen war. Auf einem klapprigen, alten Besen, den sie in Tante Fionas Schuppen gefunden hatte. Oh Merlin, dachte sie panisch.
„Alles klar?", rief Malfoy von unten mit unüberhörbarer Belustigung in der Stimme. „Willst du's dir vielleicht lieber nochmal anders überlegen?"
Sie klammerte sich an dem Besenstiel fest und schrie mit einem Anflug von Hysterie in der Stimme: „Alles bestens!"
Im nächsten Augenblick hatte Draco sich mit dem Quaffel, den er sich unter den Arm geklemmt hatte, ebenfalls vom Boden abgestoßen. Obwohl Jocelyn das Gefühl hatte, jeden Moment vom Besen zu rutschen, steuerte sie mit zusammengebissenen Zähnen die Torringe an.
„Fertig?", rief Draco fröhlich. Es ärgerte sie, was für eine viel bessere Figur er in der Luft machte. Sie nickte mit mutig hervorgerecktem Kinn und er warf den Quaffel. Sie beobachtete einige Sekunden lang wie erstarrt, wie er auf sie zuschoss, bevor sie sich panisch nach rechts warf. Aber sie hatte die Richtung des Quaffels falsch eingeschätzt. Im letzten Moment riss sie die Arme hoch und der Quaffel flog mit so einer Wucht in ihre Arme, dass sie fast vom Besen gestürzt wäre. Atemlos pustete sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte irritiert auf den Quaffel, den sie doch tatsächlich gefangen hatte. Sie sah zu Draco, der sie mit verwundertem Blick ansah, und ihr entwich ein belustigtes Schnauben. Sie warf den Quaffel, nun viel selbstsicherer, zurück zu Draco und positionierte sich wieder. Den nächsten verfehlte sie, ebenso wie den übernächsten, aber dann gelang es ihr erneut, sich im letzten Moment in die richtige Richtung zu werfen. Inzwischen hatte sie richtig Spaß an der Sache und als die den Quaffel zurück zu Malfoy warf, strahlte sie ihn an. „Ich hätte nie gedacht, dass das so viel Spaß macht!"
Zu ihrer Überraschung erwiderte er ihr Lächeln ohne seinen typischen Spott und rief zu ihrer noch größeren Überraschung sogar zurück: „Und ich hätte nie gedacht, dass du halten kannst!"
Beflügelt von seinem Lächeln strahlte sie noch breiter und wollte sich gerade für seinen nächsten Wurf positionieren, als wie aus dem Nichts Lorcan neben ihr auftauchte. Sie sah in seine Augen, die sie voller Häme betrachteten. „Ach, nein, ich glaub' es ja nicht. Meine kleine Schwester versucht sich an Quidditch!" Grabbe, der neben ihm erschienen war, gab sein übliches belustigtes Grunzen von sich. Jocelyn erwischte sich selbst dabei, wie sie Draco einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Er kam tatsächlich zu ihnen herübergeflogen und Lorcan sah ihn feixend an. „Na, könnt ihr noch Mitspieler gebrauchen?", sagte er mit einem gehässigen Seitenblick zu Jocelyn.
Draco zuckte gleichgültig die Schultern. Lorcan beugte sich vor und schnappte sich den Quaffel. Er schoss davon und ein Teil von ihr wusste, was jetzt kommen würde. Sie bemerkte, dass Draco stirnrunzelnd zu Lorcan sah, der sich nun umwandte und mit einem sadistischen Lächeln zum Wurf ausholte. Der Quaffel stürzte mit ungeheurer Kraft und Geschwindigkeit direkt auf sie zu und er war so schnell, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Mit einem Schrei wurde sie vom Besen geworfen und stürzte haltlos in die Tiefe. Es war wie in einer dieser Albträume, in denen man fällt und fällt, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Es ging alles so schnell, dass sie nicht mal die Augen schließen konnte und zusehen musste, wie der Boden unaufhaltsam näher kam. Plötzlich hörte sie jemand: „Arresto Momentum!", brüllen und sie blieb einen Moment lang in der Luft hängen, bevor sie mit einem nahezu sanften Aufprall ins Gras plumpste. Vor Schock war sie unfähig, sich zu rühren. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie nichts anderes mehr hören konnte. Dann war plötzlich Draco an ihrer Seite. Sie glaubte, Sorge in seinen grauen Augen zu sehen. Aber das war abwegig- oder nicht? Von einem auf den anderen Moment begann ihr linker Arm höllisch zu brennen. Als sie an sich heruntersah, bemerkte sie, dass er in einem seltsamen Winkel von ihrem Körper abstand. „Autsch", entwich es ihr. Sie zuckte zusammen, als Lorcan, dicht gefolgt von Grabbe, neben ihnen absetzte und von seinem Besen stieg. „Warum hast du ihren Fall gestoppt? Du hast den ganzen Spaß verdorben!", sagte Lorcan glucksend und schlug Draco spielerisch gegen die Schulter. Dieser presste für einen Moment die Lippen aufeinander, während seine Augen wütend aufblitzten. Dann wandte er sich wieder zu Jocelyn, die sich inzwischen merkwürdig benommen fühlte. „Kannst du laufen?", fragte er und seine Stimme klang, als würde er seine Wut nur mit Mühe zurückhalten. Warum ist er so wütend?, fragte sie sich verwirrt. Als Antwort auf seine Frage versuchte sie sich aufzurichten, aber mit einem Wimmern sank sie wieder zurück auf den Boden. „Dachte ich mir.", sagte er grimmig. Unerwartet sanft schob er einen Arm unter ihre Schulterblätter und einen anderen unter ihre Knie. Dann hob er sie hoch. Sie klammerte sich haltsuchend an der Vorderseite seines Umhangs fest, während sie ihren Kopf kraftlos gegen seine Schulter sinken ließ.
„Wo bringst du sie hin?", wollte Lorcan stirnrunzelnd wissen. Draco machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten und lief los. Der kalte Wind zerrte an Jocelyns langen, dunkelroten Locken, als er sie über das Spielfeld trug. Auf einmal hörte er hinter sich eine verhasste Stimme. Er wandte sich um. „Malfoy!", brüllte Potter und stürmte auf ihn zu. Er und die anderen Gryffindors waren gerade in ihren Mannschaftstrikots aus der Umkleide gekommen und in Draco stieg der altbekannte Groll hoch. „Was willst du, Potty?", zischte er und merkte, wie sich seine Lippen zu einer höhnischen Grimasse verzogen.
„Was hast du mit ihr gemacht?!", wollte Potter aufgebracht wissen. Die anderen Gryffindors standen mit peinlich berührtem Gesichtsausdruck einige Schritte hinter ihm. Offensichtlich konnten sie nicht verstehen, warum er sich um eine Slytherin sorgte.
Jocelyn hob mühsam den Kopf von Dracos Schulter und blickte Harry an. „Er...hat...nichts getan...", brachte sie undeutlich hervor.
Harry schenkte ihr einen kurzen Blick, bevor er Draco wieder anfunkelte.
„Du machst dich lächerlich, Narbengesicht. Denkst du wirklich, dass du eine Chance bei ihr hast?", spottete dieser.
Harrys Wangen färbten sich rot. „Aber du schon?", entgegnete er bissig.
„Ich bin anwesend.", nuschelte Jocelyn, doch niemand von den beiden achtete auf sie.
„Sie ist eine Reinblüterin. Niemand, der sich mit dreckigen Halbblütern wie dich einlassen würde, Potter.", fauchte Draco. Jocelyn bewegte sich mit einem unzufriedene Geräusch in seinen Armen und er ließ Potter mit einem letzten verächtlichen Blick stehen und setzte seinen Weg zur Krankenstation fort. „Musst du immer mit ihm streiten?", murmelte Jocelyn.
Er blickte zu ihr hinunter und erwiderte knapp: „Ja, muss ich."
Sie seufzte und schloss dann wieder die Augen. Es war ein seltsames Gefühl, sie durch die leeren Gänge des Schlosses zu tragen, während ihre Wange an seine Brust geschmiegt war. Er blickte sie gedankenverloren an und kam zu dem Entschluss, dass es ihm gefiel. Er grinste leicht, als er an vorhin dachte. Wie sie mit ihm zum Quidditchfeld gelaufen war, obwohl sie so offensichtlich Angst gehabt hatte, und sich dann mit hochmütiger Miene auf den Besen gesessen hatte...Sie war ohne Frage genauso stolz wie er selbst. Ihr Stolz hatte es ihr unmöglich gemacht, die Herausforderung nicht anzunehmen.
„Du bist ziemlich gut geflogen.", bemerkte er.
Sie hielt die Augen geschlossen, aber ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Findest du?", fragte sie leise.
„Ja.", sagte er schlicht. Er hatte inzwischen die Krankenstation erreicht und trat ein. Madam Pomfrey kam auf sie zugeeilt und nahm ihm Jocelyn ab. Sie legte sie in eines der Betten und wuselte dann hektisch um sie herum. Draco stand einige Sekunden lang unschlüssig mitten im Raum, bevor er sich schließlich auf einen der Besucherstühle sinken ließ. Nachdem Madam Pomfrey sich um Jocelyns Arm gekümmert hatte, prüfte sie, ob sie sich sonst noch irgendwelche Verletzungen zugezogen hatte. Aber anscheinend hatte der Fall- Verzögerungszauber sie vor dem Schlimmsten bewahrt.
„Kann ich dann wieder gehen?", fragte Jocelyn hoffnungsvoll.
Madam Pomfrey schüttelte entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall! Du musst mindestens eine Nacht zur Beobachtung hierbleiben."
Jocelyn schürte unzufrieden die Lippen. Madam Pomfrey ging zu dem Bett einer jüngeren Schülerin, die von unzähligen roten Pusteln übersät war, und Draco schob sein Stuhl dichter an ihr Bett. Jocelyn sah ihm in die grauen Augen, in denen ein schwer zu deutender Ausdruck lag, bevor sie schließlich zum Sprechen ansetzte. „Danke, dass du mich mit dem Zauber gerettet hast.", sagte sie ernst. Er nickte und eine Weile schwiegen sie. Dieses Mal aber war es kein unangenehmes Schweigen. Plötzlich ging die Tür der Krankenstation auf und Blaise kam herein. Er stockte kurz, als er Draco an Jocelyns Bett sitzen sah, dann lief er mit einem schiefen Lächeln auf sie zu.
„Ich hab' von deinem Unfall gehört. Geht's dir gut?", wollte er wissen.
Jocelyn nickte. „Dank Draco."
„Ja, wer hätte gedacht, dass er so ein Held sein kann?", spaßte Blaise mit einem Seitenblick zu dem blondhaarigen Slytherin, der sein Lächeln jedoch nicht erwiderte. Er stand auf und sah Jocelyn an. „Ich gehe dann jetzt.", sagte er knapp.
„Oh, okay, ja.", nickte sie hastig. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging hinaus. Sie sah ihm mit gefurchter Stirn einige Augenblicke hinterher, bevor sie sich wieder an Blaises Anwesenheit erinnerte. Er nahm gerade Dracos Platz ein und musterte sie mit einem Ausdruck stummer Belustigung. „Was?", fragte sie verwirrt.
„Du und Malfoy?", fragte er zurück und in seiner Stimme klang ein merkwürdiger Unterton mit.
„Schwachsinn.", murmelte Jocelyn, doch sie merkte selbst, dass sie einen Moment zu lange mit ihrer Antwort gezögert hatte.


Burning DarknessWhere stories live. Discover now