Das Erbe

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Das Haus, zu dem Sirius sie schließlich führte, war unscheinbar und klein. Der weiße Anstrich blätterte bereits ab und das Dach war schief. Sirius ging die schmale Treppe zur Vordertür des Hauses hoch und Jocelyn folgte ihm. Er klopfte mit seinem Zauberstab sachte gegen die Tür, die sich daraufhin entriegelte und aufschwang. Sirius trat in den engen, dunklen Flur, der mit allerlei Dingen vorgestellt war, und hielt ihr die Tür auf. Jocelyn ging an ihm vorbei ins Haus und wandte sich zu Draco um, der nun mit widerwilliger Miene die Treppenstufen hinauf lief und ebenfalls das Haus betrat. Von dem Flur gingen einige Türen ab und Sirius steuerte auf die Tür am Ende des Flures zu. Sie führte in ein kleines, erstaunlich behagliches Wohnzimmer, das ebenso vollgestellt war wie der Flur. Dort, in einem knautschigen, orangenfarbenen Sessel, saß Dumbledore und sah lächelnd von einem Buch auf. Sirius nickte ihm zu und ging dann aus dem Raum, wobei er die Tür hinter sich schloss. 
Dumbledore legte das Buch weg und erhob sich. 
„Ich bin froh, dass ihr gekommen seid.“, sagte er. 
Jocelyn machte unschlüssig ein paar Schritte in den Raum, während Draco mit verschränkten Armen neben der Tür stehen blieb. 
„Setzt euch doch.“, Dumbledore deutete auf den Zweisitzer, der ihm gegenüber stand und Jocelyn griff nach Dracos Arm. 
Sie zog ihn mit sich zu dem Sofa und er setzte sich mit unwilligem Gesichtsausdruck neben sie. Sie knete nervös ihre Hände, während sie darauf wartete, dass ihr Schulleiter zu sprechen begann. Dumbledore betrachtete sie einige Augenblicke schweigend, wobei ein leises Lächeln seine Lippen umspielte. Schließlich fing er an zu reden: 
„Nun, Jocelyn, ich habe dir ja bereits von dem Erbe deiner Tante erzählt, jedoch nicht, was sie dir vererbt hat.“ 
Jocelyn spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Tante Fionas gütiges Gesicht tauchte vor ihrem Inneren Auge auf und sie spürte den Schmerz des Verlustes wieder einmal wie ein Stich im Herzen. Fiona hatte nicht sonderlich viel besessen- was also konnte sie ihr vermacht haben? 
„Zu aller erst hat sie dir ihr Haus mit all ihren Besitztümern darin vermacht.“, sprach Dumbledore weiter. 
Ein humorloses Lachen entwich ihr. 
„Davon ist nur noch Schutt und Asche übrig.“, sagte sie bitter. 
Dennoch rührte sie es, dass ihre Tante ihr das Haus vererbt hatte. Das einzige echte Zuhause, das sie jemals besessen hatte. Dort hatte sie sich behütet gefühlt, auch wenn sie sich nach mehr gesehnt hatte. Nach Hogwarts zu gehen und dort mit Gleichaltrigen zu leben, war immer ihr größter Wunsch gewesen. Dieser Wunsch hatte sich erfüllt- aber zu welchem Preis? Jocelyn sah Mitgefühl in Dumbledores Augen aufflackern. 
„Außerdem hat sie dir ihr gesamtes Vermögen bei Gringotts vermacht.“, fuhr er mit sanfter Stimme fort und reichte ihr einen kleinen goldenen Verliesschlüssel. 
Jocelyns Hals wurde eng vor Rührung. Ihre Tante hatte ihr alles vererbt, was sie besessen hatte. Sie spürte Tränen in den Augen brennen. Dumbledore langte in die Tasche seines hellblauen Umhangs und zog nun eine Kette hervor, an dem ein kleines silbernes Stundenglas hing. 
„Fionas letztes Erbe erfordert wahrscheinlich erst einmal einige Erklärungen.“, sagte er ruhig. „Wie du sicher weißt, hat mich und deine Tante eine große Freundschaft verbunden. Sie war als einzige in den Plan von mir eingeweiht, Lord Voldemorts Vergangenheit zu erforschen.“ 
Er hielt inne, als Draco kaum merklich zusammenzuckte. Einige Sekunden blickte er ihn nachdenklich an. Überlegt er, ob er ihm vertrauen kann?, fragte sich Jocelyn. Doch Dumbledore schien diese Entscheidung bereits gefallen zu haben, da er fortfuhr. 
„Es war nicht einfach, die Leute, mit denen Voldemort in der Vergangenheit zu tun gehabt hatte, zum Reden zu bringen, da sie verständlicherweise Angst gehabt hatten, dafür zahlen zu müssen, wenn sie mir etwas erzählen würden. Aber mit Hilfe von Fiona habe ich über Jahre hinweg Erinnerungen gesammelt, die etwas Licht in das Dunkle von Voldemorts Vergangenheit bringen konnten. Schließlich, kurz vor Fionas Tod, war sie dabei, uns eine Erinnerung von bedeutender Wichtigkeit zu beschaffen. Bedauerlicherweise verstarb sie, bevor es soweit kommen konnte.“ 
Jocelyns Blick hatte an dem silbernen Stundenglas gehangen, das an der Kette in Dumbledores Hand befestigt war, doch als er verstummte, hob sie den Blick. 
„Sir, ist das ein Zeitumkehrer?“, platzte es aus ihr hervor. 
Dumbledore lächelte leicht. „Ja, das hast du ganz richtig erkannt.“ 
„Aber ich verstehe nicht…“, fing sie an, wurde aber von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. 
„Deine Tante hat dir den Zeitumkehrer für den Fall vererbt, dass du dich dazu entschließen solltest, ihre Bemühungen fortzusetzen. Jedoch war es ihr sehr wichtig, dass du das selbst entscheidest. Sieh dich nicht dazu gedrängt, denn das wäre das Letzte, was Fiona gewollt hätte.“ 
„Ihre Bemühungen fortzusetzen, mehr über Voldemort zu erfahren?“, hakte Jocelyn nach. 
Sie versuchte zu begreifen, was Dumbledore ihr erzählt hatte, aber es passte einfach nicht in das Bild, das sie von ihrer Tante im Kopf hatte. 
Dumbledore nickte. 
„Ja. Wenn unsere Nachforschungen richtig sind, gibt es nur noch eine letzte Erinnerung, die der Auflösung von Voldemorts Geheimnis im Weg steht. Ich habe bereits eine Vermutung, aber ich brauche die Erinnerung, um sicher zu wissen, dass sie richtig ist.“ 
Jocelyn hatte automatisch die Hand nach dem Zeitumkehrer ausgestreckt und drehte ihn jetzt mit gerunzelter Stirn in den Händen. 
„Wem gehört diese Erinnerung, Sir?“, fragte sie schließlich. 
„Einem alten Freund deiner Tante, Horace Slughorn. Er wird im kommenden Schuljahr an unserer Schule unterrichten.“, antwortete Dumbledore nach kurzem Zögern. 
„Warum glauben sie, dass gerade ich ihm die Erinnerung entlocken kann?“, wollte sie zweifelnd wissen. 
„Horace hat deine Tante sehr geschätzt. Er hat ihr mehr vertraut, als irgendwem sonst, und ich denke, dass du daraus einen Vorteil ziehen kannst.“ 
Jocelyn verfiel in nachdenkliches Schweigen. Der Gedanke, etwas Sinnvolles tun zu können, etwas, dass Fiona stolz gemacht hätte, erschien ihr richtig, aber gleichzeitig war ihre Zukunft im Moment so ungewiss, dass sie unmöglich sagen konnte, ob sie überhaupt jemals nach Hogwarts zurückkehren würde. Als ob Dumbledore ihre Gedanken lesen könnte, sagte er jetzt: 
„Du musst die Entscheidung nicht sofort treffen. Lass dir ruhig Zeit damit.“ 
Sie atmete tief durch und nickte. 
„Für den Fall, dass du dich dafür entscheiden solltest…Horace gibt in zwei Tagen ein großes Fest.“ 
Erneut langte Dumbledore in seinen Umhang und zog etwas hervor, das wie eine Einladungskarte aussah. Jocelyn nahm sie entgegen und warf einen kurzen Blick darauf, bevor sie sie in der Tasche ihres Mantels verstaute. Draco stand auf und nach kurzem Zögern folgte sie seinem Beispiel. Er ging mit großen Schritten zur Tür und sah aus, als könnte er es kaum erwarten, den kleinen, vollgestellten Raum wieder zu verlassen. Jocelyn folgte ihm, doch an der Tür blieb sie nochmal stehen. 
„Sir“, wandte sie sich mit unsicherer Stimme an Dumbledore, „warum vertrauen Sie mir? Ich habe Sie schließlich schon mal verraten.“ 
Dumbledore sah sie mit seinen klaren, weisen Augen an und erwiderte ruhig: 
„Ich weiß, dass du nicht aus freien Stücken gehandelt hast.“ 
„Dann wissen Sie doch sicher auch, dass das jederzeit wieder passieren könnte.“, sagte Jocelyn leise. 
„Du besitzt die Willensstärke deiner Tante, Jocelyn. Du hast es schon einmal geschafft, gegen den Imperius anzukämpfen und ich bezweifle nicht, dass du es ein weiteres Mal schaffen wirst.“ 
„Ich hoffe, Sie täuschen sich da nicht.“, murmelte sie leise, bevor sie sich wieder zu Draco umwandte, der sie mit undeutbarem Gesichtsausdruck beobachtete. Er öffnete die Tür und sie gingen aus dem kleinen, stickigen Wohnzimmer. Als sie den Flur hinunterliefen erhaschte Jocelyn einen Blick auf die Küche, in der Sirius saß, und ein weiteres Wohnzimmer, das genauso chaotisch wie der Rest des Hauses war. Ob das wohl das neue Hauptquartier war? Das erschien ihr unwahrscheinlich. Vermutlich war es das Haus eines Ordenmitgliedes. Draco öffnete die Haustür und sie glaubte ihn aufatmen zu hören, als die frische Luft seine Lungen füllte. Auch sie war froh, das Haus verlassen zu können. Schweigend liefen sie die Straße hinunter. Sie warf dem Blondhaarigen, dessen Miene wie immer undurchdringlich war, einen Seitenblick zu und für einen Moment wünschte sie sich, dass er mit ihr reden und ihr sagen würde, was er von dem Gespräch mit ihrem Schulleiter hielt. Doch stattdessen platzte er urplötzlich hervor: 
„Ich muss zurück nach Hause.“ 
Jocelyn blieb abrupt stehen und glaubte für einen Moment, sich verhört zu haben. 
„Was?“, brachte sie schließlich hervor. 
Er wandte sich um und bedachte sie mit einem kühlen Blick. 
„Was ist dein Vorschlag? Auf ewig unstet bleiben und Nacht für Nacht in heruntergekommenen Muggelmotels zu übernachten?“, sagte er verächtlich. 
„A-aber das kann unmöglich dein Ernst sein…Wir können nicht zurück!“, sie sah ihn ungläubig an. 
Einen Moment lang musterten seine hellen, grauen Augen sie schweigend. Sie schnappte nach Luft, als sie plötzlich verstand. Ihr entwich ein humorloses Lachen. 
„Ich verstehe. Es gibt wohl kein wir mehr, was?“ 
Einen Moment flackerte etwas in seinen Augen auf, doch sie war viel zu wütend und enttäuscht, um es zu bemerken. 
„Schön! Dann geh doch zurück zu Mommy und Daddy! Bitte um Verzeihung und sei wieder ihr liebster Todessersohn!“, entwich es ihr wutentbrannt. „Du bist doch zu feige, um irgendetwas anderes zu machen!“ 
Dracos Gesicht wurde blass vor Wut und seine Augen blitzten zornig auf, aber bevor er etwas entgegnen konnte, wirbelte sie herum und lief blindlings los. Es ärgerte sie, wie sehr es sie schmerzte. Sie hätte es wissen müssen! Hatte sie wirklich geglaubt, dass sie ihm auch nur irgendetwas bedeutete? Ein Wind kam auf, während sie mit brennenden Augen und ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie überhaupt lief, durch die hintersten Straßen Londons eilte. Der Wind wirbelte den Abfall auf, der auf den Straßen lag, und zerrte an ihren Haaren. Jocelyn fing an zu zittern und nach und nach verhielten sich ihre Schritte, bis sie ganz stehen blieb. Sie blickte die verlassene Straße hinunter. Wo sollte sie hin? Die Wunde an ihrem Hals pochte inzwischen wieder stärker und ihre Glieder fühlten sich schwer an. Als hinter ihr ein Geräusch erklang, wirbelte sie erschrocken herum, wobei ihr leicht schwarz vor Augen wurde. Sie umklammerte ihren Zauberstab, der in ihrer Manteltasche steckte, doch es war nur eine leere Bierdose gewesen, die durch den Wind über den rissigen Asphalt gerollt worden war. Sie atmete tief durch und lief weiter.

Burning DarknessWhere stories live. Discover now