Das erste Kind

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Jocelyn schlug die Augen auf und war für einen Moment völlig benommen. Sie blinzelte und schließlich erkannte sie den Schlafsaal in Hogwarts. Ausatmend wollte sie sich auf die Seite drehen und merkte erst da, dass jemand fest einen Arm um ihre Taille geschlungen und sich von hinten an sie geschmiegt hatte. Draco. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie seinen Arm sachte von ihrer Hüfte schob und dann aufstand. Obwohl es scheinbar noch sehr früh am Morgen war, fühlte sie sich ruhelos und hatte das Gefühl, keine Minute länger mehr schlafen zu können. Kein Wunder, nachdem sie fast den gesamten gestrigen Tag verschlafen hatte. Sie schnappte sich das nächstbeste Kleidungsstück von dem Kleiderhaufen neben dem Bett und erwischte Dracos schwarzen Umhang. Sie kuschelte sich darin ein und trat zum Fenster. Die Scheibe war beschlagen und sie wischte mit der Hand darüber, um etwas sehen zu können. Das Fenster ging hinaus auf den unterirdischen See. Von dem Wasser ging ein grünliches Licht aus. Der Anblick hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Hogwarts war tatsächlich zu einem Zuhause für sie geworden. Der einzige Ort, an dem sie sich seit Fionas Tod wohl gefühlt hatte. Schon allein deshalb konnte sie nicht mit Lorcan fortgehen. Sie konnte doch nicht einfach alles aufgeben. Ihr Blick huschte hinüber zum Bett, in dem Draco immer noch schlief. Einige Augenblicke lang betrachtete sie ihn reglos, während sich ihr Herz fast schon schmerzhaft zusammenzog. Seine weißblonden Haare wurden auf der einen Seite vom Kissen plattgedrückt, während sie auf der anderen wild abstanden. Seine Gesichtszüge wirkten verletzlich und frei von Trauer und Groll- Gefühle, die er tagsüber ständig mit sich herumtrug. Ihr wurde klar, dass er – genau wie sie selbst – für sein junges Alter schon viel zu viele schlimme Dinge hatte sehen müssen. Das war nicht fair, aber das war es nie. Als sie das letzte Mal einen Blick in die Zeitung geworfen hatte, war sie vor den ganzen Schreckensmeldungen fast erschlagen worden. Voldemort hatte Leid über das ganze Land gebracht und es schien nicht, als wäre bald eine Besserung in Sicht. Ach, verdammt. Jocelyn wandte sich wieder zum Fenster um und schlang fest die Arme um ihre Mitte. Jählings fiel ihr wieder ein, dass sie ihren Zauberstab nicht mehr bei sich hatte und sie musste ein Schaudern unterdrücken. In Zeiten wie diesen ohne Zauberstab herumzulaufen, fühlte sich schrecklich falsch an. Sie fühlte, dass die Erinnerungen an jene furchtbare Stunden in Malfoy Manor nur darauf warteten, wieder an die Oberfläche zu dringen, aber noch kämpfte sie gegen sie an. Hinter ihr regte sich Draco im Bett und sie sah in der spiegelnden Fensterscheibe, wie er schläfrig die Augen öffnete. Er sah sie am Fenster stehen und murmelte: „Komm' wieder her."
Erneut huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und gehorsam wandte sie sich vom Fenster ab und lief zurück zum Bett. Draco griff nach ihrem Arm und zog sie mit einem trägen Grinsen zu sich hinunter. Sie lachte auf, als er sie mit einer raschen Bewegung unter sich begrub, aber schon bald wandelte sich ihr Lachen in ein Seufzen um, als er begann, dort weiterzumachen, wo sie in der Nacht geendet hatten.

Als sie zwei Stunden später die Große Halle betraten, war Jocelyn fest entschlossen, sich für den heutigen Tag einmal von allen schlechten Gedanken zu lösen. Heute wollte sie einfach nur ein stinknormaler Teenager sein, der die Freuden des Verliebtseins in vollen Zügen auskostete. Sie setzten sich zu den zwei Slytherin- Viertklässlern, die außer ihnen als einzige von ihrem Haus über die Ferien im Schloss geblieben waren, und Jocelyn merkte, dass ihre letzte Mahlzeit schon Ewigkeiten her war. Hungrig machte sie sich über ihre Spiegeleier her, während sie den Blick durch die Große Halle schweifen ließ. Die vier großen Haustische waren beinahe vollkommen verwaist und der Lehrertisch auch nur zur Hälfte besetzt. Sie wandte hastig den Kopf ab, als ihr Blick auf Professor McGonagall fiel, die sie mit strengem Gesichtsausdruck musterte. Sie hatte eindeutig keine Pluspunkte bei ihr gesammelt, als sie unerlaubt das Schloss verlassen hatte. Als sie ihr Frühstück beendet hatten, hörte Jocelyn plötzlich das Flattern von Flügeln und sah auf. Sieben Eulen flogen hintereinander in die Große Halle. Zwei von ihnen steuerten auf den Tisch der Slytherins zu und einer der Viertklässler richtete sich erwartungsvoll auf, als eine der beiden Eulen vor seinem Teller auf dem Tisch landete. Die andere flog zu Draco, der sich nun stirnrunzelnd daran machte, die Eule von ihrer Last zu befreien.
„Der Tagesprophet? Seit wann bestellst du den denn?", fragte Jocelyn verwundert.
„Mach ich nicht.", erwiderte Draco langsam, während er die Zeitung aufrollte. Einen Moment waren sie beide von den Schlagzeilen abgelenkt, die sich quer über die Startseite zogen: Dementorenangriffe häufen sich, Kleiner Junge tötet unter dem Imperius- Fluch stehend fast seine Großeltern und Frau durch Werwolfbiss getötet. Mit einem flauen Gefühl im Magen wandte Jocelyn den Blick von der Zeitung ab, während Draco sie mit ausdrucksloser Miene durchblätterte. Plötzlich hielt er inne. Jocelyn sah verwundert zu, wie er seinen Zauberstab aus der Tasche holte und damit leicht auf die letzte Seite des Tagespropheten tippte. Noch bevor sie ihn fragen konnte, was er da machte, erschienen plötzlich wie aus dem Nichts einige Wörter auf dem Papier, die sich in ihrer blauen Farbe deutlich von der schwarzweiß gedruckten Zeitung abhoben.
Draco, las Jocelyn, ich hoffe, dir geht es gut. Ich bin in Sicherheit und ich möchte, dass du das selbst auch bleibst, weshalb ich dich darum bitte, mich vorerst lieber nicht zu besuchen. Bitte, passe auf dich auf. Du bist der Einzige, der mir noch geblieben ist. Ich liebe dich. N. Narzissa. Jocelyn sah, dass Draco mit den widersprüchlichsten Gefühlen zu kämpfen hatte. Stumm verschränkte sie ihre Finger mit seinen und er erwiderte ihren Händedruck, während die Wörter langsam wieder verblassten.
„Es geht ihr gut. Ist das nicht das Wichtigste?", flüsterte Jocelyn. Draco sah auf und presste für einen Moment fest die Lippen aufeinander, bevor er schließlich widerstrebend nickte. Sie seufzte leise, während ihr auffiel, dass es bisher mit ihrem Vorsatz nicht weit war. Ein Tag. Das durfte doch wohl nicht so schwer sein! Sie erhob sich schwungvoll von der Bank und zog auch Draco hoch. „Ich habe mir vorhin etwas vorgenommen und wenn ich nicht aufpasse, bin ich auf dem besten Weg, es nicht einzuhalten."
Als er fragend eine Augenbraue hob, sagte sie: „Nennen wir es eine Auszeit. Diesen einen Tag lang tun wir mal so, als würde es die Welt dort draußen gar nicht geben. Als wäre unsere größte Sorge, was wir mit unser freien Zeit anfangen sollen. In Ordnung?"
Dracos Lippen verzogen sich zu einem belustigten Lächeln. „Eine Auszeit, hm?"
„Ganz genau.", sagte sie trotzig und zog ihn hinter sich her aus der Großen Halle. Sie waren gerade auf dem halben Weg zu den großen Flügeltüren des Schlosses, als Jocelyn plötzlich eine wohlbekannte, gebieterische Stimme hinter sich vernahm: „Miss Fortescue?"
Lautlos seufzend schloss sie für einen Moment die Augen, bis sie sich schließlich resigniert zu McGonagall umwandte. „Ja, Professor?"
Die Lippen der grauhaarigen Professorin bildeten einen schmalen Strich. „Professor Dumbledore möchte Sie sprechen."
„Muss das sein?", entwich es ihr unhöflicher, als sie gewollt hatte.
„Ja, das muss es!", erwiderte McGonagall barsch und wandte sich dann ab- anscheinend in der Erwartung, dass sie ihr folgen würde.
Jocelyn wandte sich mit missmutiger Miene zu Draco um und murmelte düster: „Bis nachher."
Dann folgte sie der Hauslehrerin von Gryffindor, die mit schnellen Schritten voraus zu dem Büro des Schulleiters lief. Auf dem Weg fragte sich Jocelyn, warum Dumbledore sie wohl in sein Büro zitierte. Wollte er ihr die Standpauke halten, die er sich gestern wegen ihres miserablen Zustands verkniffen hatte? Schließlich hatte sie nicht nur unerlaubt das Schloss verlassen, nein, sie hatte auch noch die Auroren, die das Eingangstor Hogwarts bewachten, angegriffen. Sie erreichten den Wasserspeier vor dem Eingang zu Dumbledores Büro und McGonagall sagte das Passwort, das dieser Tage 'Zitronendrops' lautete, woraufhin der Wasserspeier zur Seite glitt und den Blick auf die Treppe freigab, die nach oben zum Schulleiterbüro führte. Schweigend stieg McGonagall einige Stufen hinauf und Jocelyn tat es ihr gleich. Die Treppe brachte sie nach oben zu der Tür mit dem bronzenen Türklopfer, den McGonagall nun betätigte.
„Herein.", sagte Dumbledore höflich. McGonagall öffnete die Tür und auf ihr Geheiß hin trat Jocelyn ein. Sie machte zwei zögerliche Schritte in den Raum und hörte, wie hinter ihr die Tür mit einem leisen Klicken wieder ins Schloss gezogen wurde. Sie wusste nicht sicher, warum, aber als sie einen Blick auf Dumbledore warf, überkam sie plötzlich ein seltsames Gefühl von Unbehagen. Er saß wie immer hinter seinem prächtigen Schreibtisch und hatte das Kinn auf die Hände gestützt, aber das war nicht das, was sie irritierte. Es war der Blick aus seinen strahlend blauen Augen, der sie stocken ließ. Sie waren merkwürdig getrübt und Jocelyn glaubte, so etwas wie Anspannung und Trauer in ihnen zu lesen. Stumm deutete er auf den Stuhl vor sich und Jocelyn ließ sich ebenso stumm darauf nieder, während sie nervös die Hände in ihrem Schoss knetete. Das Schweigen dauerte an. Dumbledore blickte sie nachdenklich, ja, fast schon forschend an und unter seinem Blick wurde sie immer nervöser. „Professor...", sagte sie schließlich unbehaglich, als sie das Schweigen nicht mehr länger aushielt. „Wenn es um die Sache gestern geht...Es tut mir wirklich l-"
„Deshalb wollte ich dich nicht sprechen.", unterbrach Dumbledore sie. Seine Stimme klang höflich wie immer, aber sie glaubte, auch in ihr ein Hauch von Anspannung heraushören zu können. „Du erinnerst dich sicher an den Tag, an dem ich dir davon erzählt habe, dass deine Tante vor ihrem Tod für den Phönixorden tätig gewesen war?", wollte er wissen, während er sich mit gefurchter Stirn durch den langen, weißen Bart strich.
„Natürlich. Es war der Tag, an dem Sie mir vorgeschlagen haben, den Schutz des Ordens anzunehmen.", antwortete Jocelyn, die nicht wusste, worauf er hinauswollte.
„Ganz genau. An diesem Tag hatte ich dir anfangs auch noch etwas anderes erzählen wollen. Ich schäme mich, zugeben zu müssen, dass ich damals nur allzu leicht zu dem Entschluss gekommen bin, dass es noch zu früh für dich gewesen wäre, davon zu erfahren."
Jocelyn erinnerte sich daran, sie hatte sich ein wenig geärgert, weil der Schulleiter es ihr nicht sagen hatte wollen, aber kurze Zeit später war die Sache auch schon von anderen Ereignissen verdrängt worden. Danach hatte sie nicht mehr daran gedacht.
„Du musst wissen, dass ich inzwischen bereue, es dir nicht schon damals erzählt zu haben. Ich vermute, ich wollte dich schützen, dabei habe ich mit meinem Schweigen das genaue Gegenteil erzielt."
Jocelyns Unbehagen wuchs. „Professor, Verzeihung, aber wovon reden Sie?"
Dumbledore blickte von seinen verschränkten Händen auf und sein ernster Blick traf sie bis ins Mark. „Jocelyn, sagt dir der Begriff 'Hokrux' etwas?"
Zögernd nickte sie. „Meine Eltern nennen viele schwarzmagische Bücher ihr Eigen. In einem von ihnen bin ich einmal darauf gestoßen."
„Dann weißt du also, was sie darstellen?"
„Sie sind Gegenstände, in denen eine Person einen Teil ihrer Seele verborgen hält. Sie zu erschaffen, ist einer der furchtbarsten Dinge, die man tun kann.", gegen ihren Willen musste sie schaudern.
„Vollkommen richtig.", erwiderte Dumbledore ernst. „Es scheint unvorstellbar, dass ein Mensch dazu in der Lage sein kann, sogar mehrere von ihnen zu erschaffen, nicht wahr? Und doch ist es das, was Lord Voldemort getan hat."
Jocelyn stockte der Atem und sie merkte, wie ihr die Gesichtszüge entgleisten.
„Hast du dich nie nach dem Grund für Voldemort außergewöhnliche Macht gefragt?", wollte Dumbledore wissen.
Stumm schüttelte sie den Kopf, der Schock saß ihr in den Gliedern. Es war tatsächlich unvorstellbar, dass jemand dazu in der Lage war, mehrere Hokruxe zu erschaffen. Das verlieh dem Grauen, das sie mit Voldemort verband, noch eine ganz andere Dimension. Es war furchtbar; allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Entsetzen.
„Die Erinnerung, die du mir von Professor Slughorn beschaffen hättest sollen: Sie hatte mit den Hokruxen zutun. Sie war – wie soll ich sagen? - die letzte, die ich noch benötigt habe, um das Rätsel um Voldemorts Vergangenheit endgültig lösen zu können."
Schuldgefühle machten sich in ihr breit. „Professor, es tut mir leid. Es ist so viel passiert in den letzten Monaten, dass ich die Erinnerung vollkommen vergessen habe..."
Dumbledore schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf. „Mach dir darüber keine Gedanken mehr. Harry hat sie vor einigen Wochen von Professor Slughorn ausgehändigt bekommen."
„Harry? Er weiß also auch von den Hokruxen?"
„Ja. Du sollst wissen, dass ich schon seit geraumer Zeit versuche, sie aufzuspüren. Nicht immer sind meine Versuche, sie zu finden, von Erfolg gekrönt- ", er hob seine Hand, die, wie Jocelyn schlagartig auffiel, schwarz und abgestorben war, und redete weiter, bevor sie ihn fragen konnte, was damit passiert war, „aber dennoch habe ich bereits einige ausfindig machen können."
„Wie? Sie können doch quasi überall und alles sein, oder?", wollte Jocelyn stirnrunzelnd wissen.
„Ohne Zweifel. Aber Voldemort hat nicht einfach irgendwelche Gegenstände zu Hokruxen verwandelt, nein, er hat welche ausgesucht, die ihm etwas bedeuten."
Einen Moment, war sie versucht zu sagen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass Voldemort irgendetwas anderem außer Tod und Folter Bedeutung zumaß, aber sie schluckte die Worte hinunter und formulierte stattdessen andere: „Sir, wenn alle Hokruxe zerstört wären, könnte Du-weißt-schon-wer dann besiegt werden?"
Dumbledore nickte mit einem ernsten Ausdruck in den Augen. „Wenn alle zerstört wären, ja."
Einen Moment war Jocelyn gefangen in der Vorstellung von einer Welt, in der es kein Voldemort gab. Es ging fast über ihre Vorstellungskraft hinaus. Seit sie denken konnte hatte die Bedrohung, die Voldemort für sie alle darstellte, wie ein Damokles-Schwert über ihr gehangen. Es war fast unvorstellbar, dass sich das irgendwann ändern könnte.
„Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Hokruxe zu zerstören ist nicht einfach und bei weitem keine leichte Aufgabe. Nur wenige hätten die Geduld und den Mut, den es benötigt, um nach jedem einzelnen von ihnen zu suchen."
„Sie schon, Sir.", meinte Jocelyn ehrlich.
Dumbledore lächelte leicht. „Dein Vertrauen in mich ehrt mich, aber diese Aufgabe werde ich nicht alleine bewältigen können. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wird sie jemand übernehmen, der dafür wohl besser als jeder andere geeignet ist."
„Harry?", mutmaßte Jocelyn.
„Du bist gut darin, Schlüsse zu ziehen.", erwiderte ihr Schulleiter bloß.
Für einen Augenblick kämpfte sie mit ihrer Überraschung, dabei wusste sie nicht einmal, warum sie so überrascht war. Da Harry 'der Auserwählte' war, lag es wohl nur nahe, dass er die Aufgabe weiter auszuführen würde, aber gleichzeitig dachte sie: Er ist doch noch so jung. Es kam ihr falsch vor, dass ihm so viel Last aufgebürdet werden würde.
„Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich in mein Büro gebeten habe.", Dumbledore wurde wieder ernst.
Jocelyn schwirrten allerlei Fragen im Kopf herum, doch bevor sie eine von ihnen stellen konnte, redete Dumbledore bereits weiter.
„Wie dir vielleicht bekannt ist, schlossen sich deine Eltern kurz nach ihrem Schulabschluss Voldemorts Gefolgschaft an. Die darauffolgenden Jahre erwiesen sich deine Eltern als derart treue Anhänger, dass sie immer weiter in Voldemorts Gunst stiegen. Ich bin mir fast sicher, dass sie außerdem bis heute die Einzigen seiner Todesser sind, die etwas von den Hokruxen wissen. Tatsächlich standen deine Eltern ihm damals so nahe, dass er sich entschloss, ihnen eine ganz besondere Ehre zu erweisen."
Die Stille wog schwer, was vielleicht auch an Dumbledores Gesichtsausdruck lag. Er sah aus wie jemand, der eine große Last zu tragen hatte.
„Eine Ehre?", traute Jocelyn sich schließlich mit dünner Stimme nachzufragen.
„Auf Voldemorts Geheiß hin überließen sie ihm ihr Erstgeborenes." Dumbledores Stimme klang sehr weit weg, seine Worte ergaben keinen Sinn für sie.
Sie schluckte, das Geräusch hörte sich unnatürlich laut an. „S-sie überließen ihm ihr Erstgeborenes?"
Dumbledore verbarg für einige Sekunden das Gesicht hinter den Händen, eine Geste, die ihr mehr Angst machte, als alles andere.
Schließlich hob er den Kopf wieder und sah sie an, was ihm unendlich viel Kraft zu kosten schien.
„Lorcan.", sagte sie langsam. „Ihr erstes Kind. Was ist mit ihm passiert?"
Als Dumbledore immer noch schwieg, richtete sie sich abrupt in ihrem Stuhl auf und ballte die Hände zu Fäusten.
„Was haben sie ihm getan?", fragte sie laut. Ihre Stimme war fest, obwohl sie nun unkontrolliert zu zittern begann.
Es war schlimm, das wusste sie instinktiv, mit einer Klarheit, wie sie noch nie zuvor etwas gewusst hatte.
„Voldemort hat ihn zu einem seiner Hokruxe gemacht."
Es war erstaunlich, wie ohrenbetäubend laut Stille sein konnte.
„D-das...ist völlig unmöglich...", presste sie schließlich hervor. Sie merkte nur am Rande, dass sie den Kopf schüttelte, immer und immer wieder.
„Ich wünschte, das wäre es.", erwiderte Dumbledore und klang plötzlich furchtbar alt. „Das wird dir sicher kein Trost spenden, aber ich habe die Vermutung, dass Voldemort es inzwischen bereits bereut. Nicht, weil es ihm leid um deinen Bruder tun würde, nein, zu solchen Gefühlen ist er natürlich außerstande, sondern vielmehr deshalb, weil er nicht mit eingerechnet hatte, wie risikohaft es ist, einem Menschen ein Teil seiner Seele anzuvertrauen. Lorcan hat seinen eigenen Willen, er besitzt Gefühle, die Voldemort ganz und gar fremd sind, was ihn unwillkürlich zu einer Gefahr für Voldemort macht. Trotzdem ist er außerstande, diese Gefahr zu beseitigen, da er damit ja gleichzeitig ein Stück seiner Seele zerstören würde."
Sir, wenn alle Hokruxe zerstört wären, könnte Du-weißt-schon-wer dann besiegt werden?, klingelten Jocelyn ihre eigenen Worte in den Ohren. Etwas stieg in ihrer Kehle auf, ein merkwürdig ersticktes Geräusch.
„Er muss sterben.", hörte sie sich selbst mit beinahe tonloser Stimme hervorstoßen. „Nur so kann Harry seinen Auftrag zu Ende ausführen."
Dumbledores Augen waren voller Mitgefühl, sein Blick brannte wie Säure in ihrem Inneren. „Ja. Ihm wird keine andere Wahl bleiben."
Seine ruhige Stimme brachte das Fass zum Überlaufen. Sie fuhr von ihrem Stuhl hoch, als hätte sie einen Stromschlag bekommen.
„Das...Das können Sie nicht machen!", entwich es ihr laut. Inzwischen zitterte sie am ganzen Körper. Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der sie erstarren ließ. „Sie lügen mich an, oder? Das kann unmöglich wahr sein! Er ist also ein Hokrux, ja? Wieso habe ich dann all die Jahre nichts davon gemerkt?!"
Dumbledore betrachtete wieder seine Hände, während er antwortete: „Hast du das wirklich nicht? Hast du dich nie darüber gewundert, wie verschieden ihr seid, obwohl ihr doch beide dieselbe Erziehung genossen habt? Kein Kind kommt böse auf die Welt, Fionas Einfluss hätte auch deinen Bruder zum Guten verändern müssen, aber da Voldemort im vollen Bewusstsein gehandelt hatte, als er Lorcan zu einem seiner Hokruxe gemacht hat, war das Seelenbruchstück in ihm auch dementsprechend stark. Stärker, als Lorcan es gewesen war."
Sie öffnete den Mund, rang um Worte, während sie begann, fieberhaft in Dumbledores Büro auf und ab zu laufen. Die verstorbenen Schulleiter Hogwarts in ihren Porträts folgten ihr neugierig mit ihren Blicken. „Das kann nicht sein!", sagte sie und biss die Zähne aufeinander. Dumbledore öffnete den Mund, doch sie kam ihm zuvor. „Wenn er wirklich ein Hokrux ist, warum hat er dann bereut, mich mit dem Fluch beinahe getötet zu haben? Warum hat er mich vor den Todessern beschützt? Warum hat er mich in den Arm ge-", sie verstummte, biss erneut die Zähne aufeinander, da ihre Kehle ganz eng geworden war.
„Wenn du nachdenkst, wirst du feststellen, dass seine Veränderung erst mit deinem vermeintlichen Tod begonnen hat. Meiner Meinung nach war das eine Art Auslöser, etwas, dass ihn nach fast sechzehn Jahren das erste Mal dazu gebracht hat, sich von dem dunklen Einfluss loszureißen, den der Bruchteil von Voldemorts Seele auf ihn gehabt hatte. Die Schuldgefühle, die Trauer und die Liebe, die er für dich empfindet, haben ihn stark gemacht und weißt du auch warum?"
Jocelyn presste die Hände an die Schläfe, sie war unfähig, zu antworten. Ihr Kopf schien zu platzen und gleichzeitig war da eine unfassbare Leere in ihr. Sie wollte nichts mehr hören, wollte Dumbledores Worte auslöschen, sie unausgesprochen machen. Sie fraßen sich wie Werwolfgift durch ihren Körper.
Er sprach weiter, auch als sie nichts erwiderte: „Sie haben ihn stark gemacht, weil Voldemort solche Gefühle nicht kennt. Sie haben seinen Seelenbruchteil mehr oder weniger gelähmt, seinen Einfluss geschwächt, wodurch Lorcan das erste Mal wirklich er selbst sein konnte."
„Dann gibt es also eine Chance für ihn?" Jocelyn hörte selbst, wie verzweifelt ihre Stimme klang.
„Ich kann nicht sagen, wie lang er Voldemorts Einfluss noch widerstehen kann. Aber er hält ihm schon länger stand, als ich es für möglich gehalten hätte."
Jocelyn hörte für einen Moment auf damit, im Raum herumzutigern und sah zu Dumbledore. „Aber das ändert nichts, oder? Er wird trotzdem sterben müssen.", sagte sie mit einer Stimme wie geschliffenes Glas.
Sein Schweigen war Antwort genug. Sie wich langsam zurück, bis sie den kalten Marmor des Kamins in ihrem Rücken spürte. Bittere Säure fraß sich durch ihr Inneres.
„Das werde ich nicht zulassen.", stieß sie hervor.
Als Dumbledore immer noch nichts erwiderte, verlor sie die Beherrschung. Wütend stürmte sie auf den Schreibtisch zu und stieß völlig außer sich vor Wut gegen den Stuhl, der davor stand. Er schlug mit einem lauten Knall auf dem Boden auf und Jocelyn fauchte zornig: „Ich werde ihn ganz bestimmt nicht sterben lassen!"
Die Gemälde ringsherum brachen in Protestgeschrei aus, aber Dumbledore brachte sie mit einer Handbewegung zum Verstummen.
„Ich verstehe deine Wut vollkommen.", meinte er ruhig.
„Haben Sie mir das deshalb alles gesagt? Weil Sie gehofft haben, dass ich Ihnen Lorcan ausliefere, meinen Bruder zu Ihnen führe, wie ein Lamm auf die Schlachtbank?!", kam ihr plötzlich ein neuer, ungeheuerlichen Gedanke.
Dumbledore massierte sich seine Schläfen, während er leise erwiderte: „Das kannst du nicht wirklich glauben. Wenn ich das im Sinn gehabt hätte, dann hätte ich doch nur genug Gelegenheit gehabt, als Lorcan noch hier auf die Schule gegangen ist, meinst du nicht?"
Doch Jocelyn wollte diese Erklärung nicht hören, sie wollte viel lieber weiter toben, denn wenn sie sich gestattet hätte, länger über das Gehörte nachzudenken, wäre sie zusammengebrochen.
„Fiona!", brach es aus ihr heraus. „Sie wusste davon, oder? All die Jahre..."
Dumbledore nickte. „Sie konnte es dir nicht sagen, denn das Wissen darum hätte eine zu große Gefahr für dich dargestellt. Voldemort ist bis heute davon überzeugt, dass nur deine Eltern davon wissen."
„Das heißt, Lorcan weiß nichts davon. Er hat keine Ahnung, dass...", ihre Stimme wurde immer leiser und Dumbledores Gesicht verschwamm vor ihren Augen.
Abrupt wandte sie sich um und wollte zur Tür stürmen, aber Dumbledores nächste Worte hielten sie noch einmal auf: „Jocelyn, ich weiß, dass das ein unglaublicher Schock für dich ist, aber ich muss dich bitten, nichts Unüberlegtes zutun. Es wäre sicherer für dich - und auch für deinen Bruder - wenn du das, was ich dir gerade erzählt habe, für dich behalten würdest. Und, Jocelyn, was deinen Bruder betrifft...Ich würde dich darum bitten, dich von ihm fernzuhalten. Ich weiß, das ist keine einfache Bitte, aber...", den Rest von Dumbledores Worten hörte sie nicht mehr, da sie blitzartig die Tür von seinem Büro aufriss und die Treppe hinunterstürzte, als wären wilde Tiere hinter ihr her.
Sicherer für dich... Er muss sterben... Ihm wird keine andere Wahl bleiben... Sie überließen ihm ihr Erstgeborenes... Voldemort hat ihn zu einem seiner Hokruxe gemacht...
Sie wollte schreien, irgendetwas tun, um es erträglicher zu machen. Eine Erinnerung schoss durch ihren Kopf, während sie blindlings durch die Gänge des Schlosses irrte.
Lorcan schnappte abrupt nach Luft und öffnete die Augen.
Schwach vor Erleichterung fiel Jocelyn ihm um den Hals. Einen Moment lang schien er nicht zu wissen, wie er reagieren sollte, aber dann schlang er mit einer unbeholfenen, abgehackten Bewegung ebenfalls die Arme um sie und drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft weg blieb. Tränen traten ihr in die Augen. Sie konnte nicht glauben, dass er ihre Umarmung tatsächlich erwiderte. Sie merkte, dass er leise etwas murmelte und erst nach einigen Sekunden wurde ihr klar, dass er wie ein ewiges Mantra wiederholte: „Du lebst, du lebst, du lebst..."
Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
Die Schuldgefühle, die Trauer und die Liebe, die er für dich empfindet, haben ihn stark gemacht und weißt du auch warum? Sie haben ihn stark gemacht, weil Voldemort solche Gefühle nicht kennt. Sie haben seinen Seelenbruchteil mehr oder weniger gelähmt, seinen Einfluss geschwächt, wodurch Lorcan das erste Mal wirklich er selbst sein konnte.
Er selbst. Wenn es stimmte, wenn es wirklich wahr war, dann wäre keines seiner bösen Worte und keines seiner schrecklichen Taten in der Vergangenheit wirklich er gewesen. Wenn es wirklich und wahrhaftig die Wahrheit war, dann hatte sie keine Ahnung, wer ihr Bruder überhaupt war. Dann kannte sie ihn gar nicht richtig. Denn alles, woran sie geglaubt hatte, wäre dann eine Lüge. Dies war so ungeheuerlich, dass ihr Verstand vor diesem Gedanken zurückprallte.
Wenn du nachdenkst, wirst du feststellen, dass seine Veränderung erst mit deinem vermeintlichen Tod begonnen hat.
Das Schlimmste war, dass Dumbledores Worte tatsächlich Sinn ergaben. Sie hatte seine Veränderungen in den letzten Wochen einfach wie selbstverständlich hingenommen, aber jetzt kam ihr das schrecklich dumm vor. Niemand änderte sich von einem Tag auf den anderen. Es war, als hätte jemand in seinem Inneren ein Schalter umgelegt. Die Vorstellung, wie leicht dieser Schalter auch wieder umspringen könnte, verknotete ihr Inneres vor Angst. Sie durfte es nicht zulassen. Sie durfte ihn nicht an Voldemort verlieren. Wenn der Lorcan der letzten Wochen wirklich der Wahre war, dann wollte sie ihn um keinen Preis wieder verlieren.
Aber wie? Sie blieb stehen, ohne eine Ahnung zu haben, wo sie sich gerade befand und lehnte ihren Kopf an die kühle Steinmauer neben sich. Was sollte sie nur tun?
In drei Tagen, hörte sie plötzlich Lorcans Stimme wie ein Echo in ihrem Kopf. Ruckartig hob sie den Kopf wieder, als ihr eine Erkenntnis kam. Jetzt hatte sie wohl keine andere Wahl mehr, als mit ihm fortzugehen. Sie durfte nicht zulassen, dass er getötet wurde. Sie würden weggehen müssen, weit, weit weg, wo sie niemand finden würde. Draco. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, aber sie ignorierte es. Sie konnte jetzt nicht an sich denken, nicht, wenn das Leben ihres Bruders auf dem Spiel stand.
Und, Jocelyn, was deinen Bruder betrifft...Ich würde dich darum bitten, dich von ihm fernzuhalten.
Sie biss die Zähne aufeinander. Nein, um ihre eigene Sicherheit sorgte sie sich nicht. Lorcan würde ihr nichts tun. Zumindest nicht dieser Lorcan, den sie in den letzten Wochen kennengelernt hatte. Jener, der für sie ein verkohltes Amulett aus den Trümmern des Hauses gerettet hatte, in dem sie beide aufgewachsen waren- inmitten einer riesigen, ungeheuerlichen Lüge.

Burning DarknessWhere stories live. Discover now