66. - Kapitel 12 (5)

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Eine Ohrfeige, so laut, dass selbst sie es hören konnten. „Was hast du dir dabei gedacht?"

Schweigen. Im Wintergarten tobte der Vogel und raubte der Lilie ihr Feuer.

„Du solltest ein Mädchen herbringen. Nicht zwei."

„Aber welche?"

„Lissia hat sie dir beschrieben. Diese beiden sehen nicht mal aus Distanz gleich aus! Nicht mal, wenn sie das gleiche tragen würden."

„Ist doch egal, die eine muss ja nicht unbedingt existieren."

Wieder eine Ohrfeige. „Du lenkst sowieso schon genug Presse auf uns. ‚Der große Headless', ja? Wenn das so weiter geht, musst du nicht unbedingt existieren. Jetzt geh und warte auf den Kleinen."

„Ja, Vater." Headless trat ab.

Sie befanden sich in einem Gästezimmer. Ein blaues Bett, ein brauner Schrank, Vorhänge und Panzerglas. „In der Ruhe liegt die Kraft.", murmelte Hannah vor sich her. „In der Ruhe liegt die Kraft." Ihre Haare waren zerzaust, sie hatte vergessen, wie Zöpfe geflochten werden, die Brille verrutscht, doch wer hatte schon Zeit, klar zu sehen? „In der Ruhe liegt die Kraft."

Kiana lief im Raum umher. Drei Schritte konnte sie gehen, dann war Wand oder Schrank vor ihr. Immer wieder. Warum waren sie hier? Hatte sie etwas falsch gemacht? Headless? Existieren? War es wegen der Schule? – Ihren Eltern? – Stopp.

„Ich glaube, ich weiß, was dein Lieblingsmärchen ist.", hatte sie gesagt und zwischen ihren Büchern hervorgelächelt.

„Ach ja?" Suma klappte das Schulbuch zu. Niemand außer Kiana war im Zimmer hinter dem Fenster.

„‚Das Mädchen mit den Zündhölzern'. Liege ich richtig?"

„Warum sollte ich das mögen?"

„Weil sie draußen ist und trotzdem nicht in Freiheit. Weil sie sich wünscht, Weihnachten zu feiern. Und sonst ist sie vielleicht immer stark, doch an diesem Abend reicht es nicht und sie ist ehrlich zu sich. Niemand kann das alles sehen, außer das Feuer und sie, und ein wenig wärmer wird ihr." Sofort drehte sie sich zur Seite. „Vielleicht interpretiere ich da zu viel hinein, entschuldige. Mir gefiel die Vorstellung."

„Du hast recht.", murmelte Suma, schaute auf sein Buch. „Natürlich hast du das."

„Ich- hm... Ich- Frierst du nicht?"

Suma rückte seinen Schal zurecht und schüttelte den Kopf. „Nein. Mach das Fenster zu. Dir wird kalt."

Kiana lächelte. „Ich wünschte, ich würde den Tag erleben, an dem du Streichhölzer brauchst."

„Kannst du lange warten.", murrte er, linste zu ihr und sie wagte fast, ein Schmunzeln zu entziffern. Doch warum sollte er so plötzlich das Gesicht verziehen, wo er doch lauthals von seinem Hass auf das Lachen erzählte? Das hielt sie dann doch für zu unwahrscheinlich und schloss das Fenster.
Möglich war es trotzdem.

Halt. Suma! Hatte er etwas damit zu tun? Doch wie sollte das zusammenhängen, wo sie ihn doch kaum kannte und er wohl niemals mit einem gesuchten Mörder etwas zu tun haben konnte, er war schließlich noch Schüler! Stopp. Sie kannte ihn kaum. Sie hatte keine Ahnung von der Wahrheit und keine Ahnung von den Lügen. Sie konnte ihn damit nicht in Verbindung setzen, wie auch niemanden sonst. Sie hatte keine Beweise und so ließ sich keine fundierte These aufstellen. Nein, sie konnte nur Aussagen über ihren jetzigen Zustand treffen.

1. Sie waren in einem abgeschlossenen Raum
2. Vor der Tür stand vermutlich ein gesuchter Mörder
3. Sie hatte keine Zeit mehr zu lernen
4. Konnte sie die Klausur überhaupt schreiben?

Wann kamen sie hier raus? Sie musste morgen Statistik schreiben, übermorgen Biologie! Wieso war sie hier? Warum war ihr das noch nicht früher aufgefallen? Was musste passieren, damit sie hier rauskamen? Alle Mühen – umsonst? Wann sollte sie die Klausuren sonst schreiben, wie sollte sie ihren Abschluss machen? Wie sollte sie den Menschen helfen, wenn sie hier in diesem Raum blieb?

Ihr Lauf wurde hektischer. Sie durchbohrte ihren Wollpulli mit abgekauten Fingernägeln. Starrte ständig zur Tür. Ihr Zopf sah schon von Anfang an nicht hübsch aus, doch hielt das Haargummi jetzt nur noch mit Mühe.

„Das kann doch nicht sein.", flüsterte sie und klopfte an die Tür. „Entschuldigung, ist jemand da draußen?"

„Ja." Ein Mädchen.

„Mein Name ist Kiana Levento. Wie heißt du?"

„Lissia.", murmelte sie. „Ich kenne dich schon."

„Weißt du, wann wir hier rauskommen?"

„Du vermutlich nie, Hannah vermutlich tot."

Kiana zuckte zusammen. „Warum... tot?"

„Sie bringt Pa nichts."

„Muss sie jemandem etwas bringen um am Leben zu bleiben?"

Schweigen, dann ein genervtes Ausatmen. „Weißt du was? Du nervst."

„Entschuldigung."

„Okay. Du bist unheimlich."

„Entschuldige dich nicht, Kiana.", zitterte Hannah. Stumme Tränen rannen über ihr Gesicht. Kiana nickte, setzte sich neben sie.

„In der Ruhe liegt die Kraft." Hannah drückte Kiana an sich. „Ich will nicht sterben. Nicht, bevor ich meiner Familie Noah vorgestellt habe. Nicht, bevor ich meine Geschwister als Schulkinder gesehen habe. Nicht, bevor ich nicht selbst eine Familie habe. Ich will noch nicht sterben. Ich will nicht. Ich lebe so gerne. Gerade bin ich glücklich."

Kiana erwiderte die Umarmung. „Warum sollten sie dich umbringen, wenn du ihnen nie etwas tatest? Das kann ich nicht glauben."

„Ihr lebt doch auch nicht mit dem Restmüll zusammen.", schallte es dumpf aus dem Flur. Als Kiana und Hannah schwiegen, schrie Lissia: „Restmüll wird entsorgt. Immer!"

Kiana stand auf und kniete sich vor die Tür. „Wann ist ein Mensch deiner Meinung nach nichts mehr wert, Lissia?"

„Wenn er den Kunden stört. Wenn Pa ihn nicht mag. Wenn er seinen Platz nicht kennt. Wenn er zu schwach ist." Sie schluchzte.

„Kann ich dir irgendwie helfen?"

„Hilf dir selbst."

„Geht es dir gut?"

„Pa ist sehr gnädig. Er recycelt uns, wenn er Talent sieht. Und er lobt uns auch."

„Was?" Kiana brach in Tränen aus. „Lebst du hier?"

„Natürlich. Das tun wir alle."

„Wieso denkst du, dass du Müll wärest? Wieso bist du hier?"

Plötzlich war das Wimmern hinter der Tür verschwunden. Lissia ging einen Schritt zurück. „Wo sollte ich denn sonst hin, du verwöhntes, reiches Kleinkind? Hier habe ich meine Familie, ich bin dankbar! Halt die Klappe. Ich bin nicht so schwach, wie du."

Kiana atmete zitternd ein, senkte den Kopf. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht verletzen."

„Sei endlich leise. Du hast mich nicht verletzt, wir können gar nicht verletzt werden."

„Wie viele seid ihr?"

„Halt die Klappe!"

Den Kopf an die Tür gelehnt, schwieg Kiana. Wie konnte diese Welt nur so ein grausamer Ort sein?

Blumenbrechen (Wird Nicht Mehr Überarbeitet Und Auch Nicht Fortgesetzt)Where stories live. Discover now