53. - Kapitel 10 (5)

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Sekunde um Minute um Ewigkeit verstrich die Zeit. Es war Folter, sowohl für Kiana als auch für Suma und beide merkten das auch. Doch Kiana hatte noch immer keine Ahnung. Wie sollte sie bloß all ihre Fragen zu einer einzigen zusammenfassen? Klar könnte sie alles mit einem „und" verbinden, doch war sie sich sicher, dass Suma das auffiele und er dann nur eine, wenn überhaupt, beantwortete. Außerdem durfte es keine Ja-Nein-Frage sein, denn so könnte er sich viel zu leicht herauswinden. Sie durfte nicht zu weit und nicht zu eng ausfallen, schließlich wollte sie wirklich viel von ihm hören.
Es waren so viele Details, die ihr wieder klar wurden, als sie über diese eine Frage nachdachte: so wenig wusste sie gar nicht über Suma – wobei es dieser Haufen an Winzigkeiten eigentlich nicht als Wissen bezeichnet werden konnte.

So murmelte sie endlich: „Ich würde dich am liebsten alles der letzten neun Monate noch einmal fragen, nur um endlich Klarheit zu haben. Zum Beispiel, was du am ersten Tag auf deinem Block stehen hattest oder warum du so schreibst, wie du schreibst, denkst, wie du denkst, handelst, wie du handelst. Oder warum du überhaupt hier bist.
Vielleicht würde ich dich am liebsten Fragen, wer genau du bist. Aber ich glaube, diese Frage könnte ich mir nicht einmal selbst beantworten, deswegen lasse ich es." Er sah zu ihr und hörte stillschweigend zu. „Deshalb frage ich dich lieber: Woher kommst du, wohin willst du und warum bist du hier – hier in diesem Raum und hier auf dieser Schule? Ich weiß, das sind drei Fragen zusammen, aber vielleicht beantwortest du sie ja trotzdem alle?" Sie lächelte verlegen vor sich hin.

Suma senkte die Stimme. „Ich komme von der Straße, zwang mich hierher und gehe dorthin, wo ich vermutlich meistens frei sein werde."

Kiana seufzte innerlich auf. Von der Straße? Zwang? Freisein? – Hinter seiner Aussage stand nur wieder dieses schemenhafte Bild einer Person. Ihre Frage war wohl doch nicht so allumfassend, wie sie es sich gewünscht hatte. Anders gesagt war ihre Frage außerordentlich schlecht gewesen. Doch was konnte sie schon daran ändern? Es war Sumas Entscheidung, hier zu sein und es war auch seine Entscheidung, ihr zu antworten.

„Du willst mehr wissen.", meinte Suma.

„Ja, aber du musst nichts beantworten, wenn du das nicht willst."

Suma kniff die Augen zusammen. „Ich werde es dir sagen und du wirst nie mehr irgendetwas fragen."

„Das kann ich dir leider nicht versprechen, aber ich werde es versuchen." Sie lächelte, er zog die Luft ein.

„Meinen wirklichen Nachnamen kenne ich nicht. Ich war in einem Kinderheim. Ich ging und brach ein Jahr lang in Gebäude ein. Dort habe ich geschlafen." Er kniff die Augen zusammen. Erst Minuten später zuckte er, als sei er aus einem bösen Traum erwacht und erzählte weiter, als wäre nie etwas gewesen.
„Frau Rat hat mich in den Aufnahmetest geschleust, hat mir Kleider gegeben, hat mich auf irgendeinem bürokratischem Papier adoptiert und hat Beamte bestochen, um mir eine Identität zu beschaffen, die nie existierte und die auch nie existieren wird. Ich weiß das und sie auch. Nur niemand sonst. Immer, wenn irgendjemand mir ein Liebesgeständnis macht, sich mit mir anzufreunden versucht oder mich auch nur anspricht, hasse ich ihn. Sie haben keine Ahnung, sie wollen es nicht wissen und ich werde es ihnen nicht verraten. Sie sollen mich nur in Ruhe lassen! Sie sollen gehen, alle. Ich hasse diese Menschheit und sie verstehen das nicht." Suma schüttelte den Kopf, als verpufften dadurch seine Gedanken. „Rat lockte mich mit der Bibliothek auf die Schule und ich fiel darauf herein. Ich bin Abgehauen wegen Büchern und wurde wieder eingesperrt durch sie. Aber es war das beste Angebot seit langem. Und da draußen ist die Freiheit auch nur eine weitere Lüge."

Kiana schaute hoch. Das war er also: der echte Suma. Der Suma, der Charakter besaß – und Ängste. Der Suma, der wütend war und hasste; Der panisch war und nervös – Der Suma, der fühlte. Und natürlich bemerkte sie die klaffenden Lücken in seiner Erklärung, doch gelogen schien es auch nicht und so wollte sie nicht noch weiter fragen. Sie wollte lieber anerkennen.
„Ich glaube, ich verstehe dich ein wenig besser." Diesmal wollte sie wirklich nicht mitleidig klingen.

Suma drehte sich sofort von ihr weg. „Hör' mit dem Heulen auf."

„Entschuldigung.", nuschelte Kiana und wischte sich mehrfach über die Augen. Es half nichts, sie weinte trotzdem weiter. „Ich wünsche mir nur gerade, dass ich dein früheres Ich in den Arm nehmen könnte und ihm sagen, dass alles gut wird." Sie atmete zitternd ein.

Suma zuckte mit den Schultern. „Hör' auf zu weinen." Kiana nickte wieder und trocknete ihre Tränen ab und weinte trotzdem weiter. „Kiana.", murrte Suma.

„Es tut mir leid.", flüsterte sie wieder. „Entschuldigung." Und hörte schließlich wirklich auf.

Suma blickte sich wieder nach allen Seiten um und murmelte erst dann: „Warum willst du mich überhaupt verstehen? Warum stellst du dir diese unwichtigen Fragen?"

„Ich will alles verstehen, alles auf dieser Welt."

„Tsss", gab er von sich, was wie ein langgezogenes Ausatmen klang „Das ist praktisch unmöglich."

Sie schmunzelte. „Alles beginnt mit einzelnen Schritten. Ich glaube, wenn ich nur genug verstehe, werde ich vielen Menschen helfen können."

Suma rollte mit den Augen. „Idealistin."

„Ich denke, es ist gut, das Schönste für diese Welt zu wollen. Und das geht vielleicht am besten mit möglichst viel Wissen. Das siehst du bestimmt anders." Suma schwieg und Kiana auch. Manchmal linsten sie zum jeweils anderen, doch sobald einer von ihnen irgendetwas bemerkte, war der Boden plötzlich unglaublich interessant. Irgendwann zuckte Suma zusammen und stellte sich wieder gerade hin. Er schritt zur Tür und legte seine Hand an den Griff.

„Suma?"

„Hm?"

Kiana öffnete den Mund, zögerte und sagte dann: „Ich bin froh, dass du auf dieser Schule bist. Frau Rat hat eine gute Entscheidung getroffen, glaube ich."

Er zuckte mit den Schultern. Sie schmunzelte ihn an. „Kann sein." Wieder wandte er sich zur Tür. "Kiana Levento." Und schloss sie hinter sich.

Kiana blickte ihm lange nach. Suma war ein Mensch, der wissen wollte und wissen will, der gerne liest, der Menschen hasst, ein Pessimist, ein scheinbarer Niemand. Ängstlich.

„Hm.", dachte sie, als sie die Vorhänge öffnete und sie das Licht wieder blendete. Auf dem Baum saß er nicht, wie erwartet.
„Vielleicht sind wir uns gar nicht so unähnlich."

Du Alles schmerzt mein sein.
Wenn ich bei dir bin, ziehen alle Organe in mir sich zusammen.
Ich kralle mich an mir fest, je näher ich dir komme.
Das Herz schlägt, als könnte das Ich ängstlich sein. Oder nervös.
Und immer und immer und immer wieder muss ich das Ich daran erinnern, dass es nichts fühlen kann.

Ich bin verrückt geworden.
Und das ist deine Schuld, du Alles.
Doch kannst du keine Schuld besitzen
bin ich selbst doch zu dir gerannt.

Was sollte das Ich tun, außer zu schwindeln?
Das Ich steht in der Ecke, umzingelt vom Alles und weiß sich nicht anders zu helfen.

Die Leere muss lügen,
Die Leere ist die Lüge,
Warum hat das Ich, die ewige Leere, also nicht alles erlogen.

Und warum hast du die Lücken in der Geschichte nicht bemerkt?
Warum hast du mir überhaupt zugehört?

Blumenbrechen (Wird Nicht Mehr Überarbeitet Und Auch Nicht Fortgesetzt)Where stories live. Discover now