36. - Kapitel 8 (3)

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Suma saß auf seinem Ast und starrte in den hochblauen Himmel. Keine Wolke störte das Bild und keiner schrie ihm vom Boden aus zu. Die Schule war völlig leer. Alles schien völlig still. Morgen würde sich das ändern.

In seiner Hand hielt er ein Buch. „Fremdsprache 2 - Grundlagenwortschatz". Er verstand keine einzige Konstruktion. Schließlich sprang er vom Baum und schlich die Stufen zur Bibliothek hinauf.

Diese Arbeit, die Kiana ihm gebracht hatte, waren Fesseln seines Denkens, Fesseln seines Seins. Fesseln seiner Unfreiheit im Nichtleben.

Nein, er war nicht frei, Kiana.
Nein, er war nicht glücklich, Kiana.
Nein, er war nicht freundlich, Kiana.
Nein, er konnte das nicht ändern. Kiana.
Und, nein, er hatte keine Ahnung, ob er sich ändern wollte, wenn er es könnte.

Kiana.

Er schob das Buch zurück in ein Regal.
Suma spürte nichts. Kein Stück. Ein Schnitt, ein Stich, eine Berührung. Alles glitt an ihm vorbei und alles prallte von ihm ab. Doch das war ihm noch nie so bewusst, wie an diesem letzten Ferientag.
Er prüfte die Umgebung, streifte durch die Regale, bis er schließlich ein großes, altes Buch in seinen Händen hielt.
Morgen würde wieder jemand in seiner Nähe sein, der mehr als Alles fühlen konnte. Und er würde fühlen, dass er nichts fühlte. Es würde ihn peitschen.
Er tappte zurück zu seinem Baum, floh hinauf, schaute sich nach allen Seiten um. Unten-Rechts-Links-Oben. Suma fixierte eine Metallkappe an der Dachkante. Sie glänzte im Licht, als wollte sie die wirkliche Sonne imitieren.

Er blätterte in dem Märchenbuch, bis er das kleine Mädchen mit den Zündhölzern aufgeschlagen hatte. Es war auf Seite 87 und neben dem Text war ein Bild mit einer glücklichen Familie zu sehen. Einer Familie, wie Kiana sie scheinbar hatte. Oder, wie die, die Ruby sich damals ständig herbeigelogen hatte. Ruby, seine „Schwester". Sie waren alle eine große, glückliche Familie. Alle. Weil sie alle das Gleiche erlebt hatten, das Gleiche taten, das Gleiche waren.

Und selbst unter ihnen war er anders. „Besonders". Ja, besonders. Besonders schlecht in der Sinnlosigkeit, die sich Leben nannte. Und das machte ihn zum allerbesten unter allen in dieser „Familie". Und es war ihm absolut egal. „Gut" sein, schlecht sein, was war das schon? Was sollte das schon machen?
Ruby war das wichtig. Ruby wollte immer etwas sein, für ihre „Geschwister", ihre „Onkel" und ihren „Vater". Ruby war so armselig. Sie hing an so viel und lächelte, ging es verloren - eine Marionette. All ihre Fähigkeiten waren dennoch absolut
unbedeutend.
Alles war absolut unbedeutend.
Allen war das absolut klar.

Sie hatten sich aus freien Stücken entschieden, so zu sein. Suma war freiwillig in Ketten gelegt. Er war freiwillig Unfrei. Er hatte es so gewollt.

Suma blätterte weiter. Das kleine Mädchen mit den Zündhölzchen bereitete ihm ein stechen hinter der Stirn. Das fühlte er nicht. Nein, das tat er nicht.
„Die Blumen der kleinen Leva". Von dieser Geschichte hatte er noch nie gehört. Und zuckte beim ersten Satz zusammen.

„‚Meine armen Blumen sind ganz tot!' sagte die kleine Leva. ‚Sie waren so schön gestern Abend, und nun hängen alle Blätter vertrocknet da! Warum tun sie das?'"

Er las weiter. Ida redete mit einem Studenten über einen Ball, den die Blumen nachts feierten - und erlebte ihn schließlich selbst.

„Die Blumen sagten: ‚Wir danken Dir herzlich, doch wir können so nicht lange leben! Morgen sind wir tot."

Am nächsten Morgen waren von den Blumen nur noch vertrocknete Überreste verblieben. Leva beerdigte diese Wesen, von denen niemand sonst etwas wusste. Und die niemand sonst beweinte.

Leva wurde vielleicht erwachsen, vielleicht auch nicht. Vielleicht starb sie kurz darauf selbst. Leva war töricht. Leva war einfältig. Leva hätte diese Blumen vielleicht nie treffen sollen, das hätte ihr den Tod erspart.

Suma schlug das Buch zu und starrte wieder zu dem glänzenden Metallpunkt am Dach. Das Leuchten lachte ihn aus und das wusste er ganz genau.

Morgen. Morgen würden die Gardinen im Zimmer neben seinem Baum wieder aufgehen. Morgen würde Kiana wieder unerträglich sein. Kiana und ihre unbeantwortbaren Fragen.

Hörst du nicht, dass ich dich nicht verstehe, Kiana?

Blumenbrechen (Wird Nicht Mehr Überarbeitet Und Auch Nicht Fortgesetzt)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt