29. Kapitel 7 (1)

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Es war so weit. Noch nicht einmal zwei Wochen und die Ferien begannen. Vier Wochen Pause. Vier Wochen ohne irgendwelche Test, Überprüfungen oder mündliche Mitarbeit.

Am 1. Juni, einem erstaunlich kalten Freitag, saß Suma zum ersten Mal seit Tagen wieder auf dem Baum. Es war später Abend, Kiana hatte das Fenster gekippt. Viktoria saß auf ihrem Bett, mit ihren Kopfhörern im Ohr und schaute einen Film. Die Schulgebäude verdeckten zum Großteil die untergehende Sonne. Nur an einigen Ecken blitzte ein goldenes Licht in den Hof.

Suma sah noch viel fahler als sowieso schon aus. Er trug den schwarzen Schal, den er auch im Winter getragen hatte. Seine Jacke hatte er noch nie abgelegt, völlig gleichgültig, welches Wetter herrschte. Ständig rieb er sich Schlaf aus den Augen oder unterdrückte ein Gähnen. Seine Finger zitterten. Seine Locken wucherten und standen in alle Richtungen ab. Und immer wieder überprüfte er seine Umgebung. Rechts, links, oben, unten. Er konnte sein Gleichgewicht kaum noch halten.

Kiana öffnete das Fenster vollständig. Ein Regentropfen fiel auf das Fensterbrett. „Ist alles in Ordnung oder geht es dir nicht gut?"

Suma bewegte sich kein Bisschen. Er starrte auf seinen Block, doch sah nichts. Er meinte nur: „Es reicht". Der Regen wurde stärker.

Sie hat keine Ahnung.
Sie hat zu viel Ahnung.

Kiana schaute in die Wolken. „Warte einen Augenblick.", sagte sie und ging zu ihrem Bett. Suma linste ihr hinterher.

Sie kam mit einem schwarzen Taschenregenschirm wieder und versuchte ihn zu Suma zu werfen. Sie warf viel zu weit und der Schirm fiel. Suma presste seinen Schreibblock an seine Brust und fing den Schirm mit der linken Hand auf, wobei er selbst fast fiel. Er lehnte sich wieder sicher an seinen Baumstamm und schaute den Schirm an. „Was soll das?", fragte er und blinzelte. Er rieb sich über die Augen.

„Du siehst kränklich aus.", antwortete Kiana. „Und es regnet."

Suma schaute vom Schirm zu ihr und zurück. Seine Jeans klebte an seinen Beinen, seine Jacke war durchweicht. Er spürte nichts. Keine Kälte, keine Nässe. „Das ist sinnlos."

„Ich bitte dich, nimm ihn einfach an." Sie lächelte. Suma tickte gegen seinen Fingernagel.

Er rollte mit den Augen und suchte den Schirm nach etwas ab, öffnete ihn und guckte auch innen nach. Nein, nichts. Wie erwartet. Suma wurde dennoch misstrauisch. „Warum machst du das?" Er hatte nicht die Kraft, um echten Hass zu erzeugen. Es blieb bei der Leere in seiner Stimme.

„Weil ich möchte, dass du gesund wirst."

Sie will helfen, dieses Etwas im Nichts.
Sie bekümmert mich.
Was willst du von mir?
Ich bin nicht schwach.", gab er von sich.

„Das habe ich nie behauptet.", antwortete sie.

Suma schloss die Augen. „Wenn ich gesund werden sollte, wäre ich krank. Krank ist schwach. Ich bin nicht schwach."

Seine endlosen Kopfschmerzen umnachteten sein Denken. Er handelte dumm. Er sagte ihr so viel, was sie nichts anzugehen hatte.

„Beziehst du dich damit auf die physische oder psychische Schwäche?"

„Beide, du-" Er brach ab. Er war viel zu müde, viel, viel zu müde um Kiana zu definieren. „Du." Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht schwach.", wiederholte er wieder.

„Ist es schlecht, dass man, wenn einem nicht Wohl ist, das offen zeigt? Ist es nicht wichtig, damit andere einen danach behandeln können?" Kiana war wieder lauter geworden, doch sicherlich nicht wütend. Das wurde sie nicht mehr. Sie verbat es sich selbst. „Schließlich ist jedes Leben ein Geschenk, auch wenn du mir das vielleicht nicht glaubst."

Das glaubst du? Kein Leben hat Wert. Kein. Leben.
Auch du hast keinen Wert. Du kannst keine Ausnahme sein.
Du darfst es nicht sein.

Suma schwieg. Er konnte Kiana nie stoppen. Sie stellte immer eine Frage zu viel. Er dachte danach immer einmal zu viel an sie. An Dinge, die er ausblendete. Sie hatten nie existiert – diese Dinge. Seine Augen wanderten zu seinen wieder tickenden Fingern. Da waren seine Fingerknöchel und die Makel, die niemand sah. Nein. Da war nichts. Nichts, nichts, nichts.
Kiana machte ihn nicht schwach durch ein paar Fragen.

Kiana wurde wieder Sachlich. „Ich zumindest sehe das so. Es würden bestimmt viele nicht meiner Meinung sein, nicht nur du. Es ist nicht selbstverständlich, so denke nur ich allein. Tut mir leid.", murmelte sie. „Ich würde mir trotzdem wünschen, dass du zumindest den Schirm benutzt."

Suma konnte sein Husten nicht unterdrücken. Er schaute kurz auf seinen Block. Die Tinte verlief. Er spannte den Schirm auf. Kiana nickte.

„Vielen Dank.", sagte sie. Dieses Lächeln, ihr Lächeln, war Sumas Albtraum. Er nickte ebenfalls. „Gute Besserung." Sie schloss das Fenster.

Ki-a-na. Seit Monaten schon nervte sie ihn. Ki-a-na. Was war ihr Ziel? Ihr Hintergedanke? Wann wechselte sie die Seite? Und wann wurde sie endlich zu einem normalen Nichts?

Kiana wandte dem Fenster, Suma, den Rücken zu. Viktoria schaute auf. Sofort rückte Suma hinter der Glasscheibe in das Zentrum Viktorias Aufmerksamkeit. Er hatte einen Schirm. Er hatte jemandes Schirm. Dieser Schirm war-

„Was machst du da mit Suma? Flirten? Ich glaub's nicht. Du auch noch?", ratterte Viktoria panisch runter.

Kiana runzelte die Stirn. Als Viktoria aufsprang, ging Kiana verschreckt einen Schritt nach hinten. Sie lehnte sich gegen das Fenster. „Das war nicht meine Absicht.", antwortete sie.

Viktoria stapfte auf sie zu. Wollte sie ihr etwas tun? Waren sie nun keine Freunde mehr? Doch Viktoria seufzte nur verzweifelt auf. „Dann is' ja gut." Sie schloss Kiana in eine Umarmung. „Ich weiß einfach nicht, was ich machen würde, wenn jetz' auch noch du ihn willst." Sie atmete tief durch. „Ich hab' nich' so tolle Haare wie du oder bin so gut in Mathe oder Chemie oder Bio wie du. Und du bist außerdem viel niedlicher als ich." Kiana erwiderte die Umarmung vorsichtig und noch etwas verwirrt. „Alle sind viel näher an perfekt dran als ich. Ich werde sowieso nie mit ihm ausgehen, weil er sich nur Ebenbürtige verliebt. Und dann gibt es da auch noch das Gerücht, dass er Schwul ist. Oder Bi. Und dann wären da noch mehr Konkurrenten." Mit jedem Wort wurde sie schneller. Ihre Stimme bebte. Kiana strich ihr langsam über den Rücken. „Ich will doch nur einmal auch in irgendwas gut sein. Ich werde nie so sein wie, wie-" Sie brach ab.

„Wie wer?"

„Wie Pia."

Pia war Viktorias Schwester. Das wusste Kiana noch. Sie erwähnte sie ab und zu in Gesprächen und das meistens abschätzig. Auch hatte Viktoria einmal mit ihr telefoniert. Sie redeten völlig normal miteinander. Warum also dieser Hass?

„Warum solltest du ein weniger toller Mensch als Pia sein?"

„Weil das so ist. Sie ist eben toller."

„Woran machst du das fest?"

Viktoria stoppte die Umarmung und guckte Kiana ins Gesicht. „Weil sie alles besser kann. Ich bin doch nur aus Glück hier auf dieser Schule."

Kiana zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wie genau die Tests ausgewertet werden. Du kannst vielleicht im Sekretariat nachfragen."

„Ich weiß die Antwort doch schon."

„Okay." Kiana glaubte ihr nicht. Jeder Mensch war gleich viel Wert. Jeder Mensch hatte eine Existenz auf dieser Erde verdient. Jeder Mensch war ein guter Mensch. Kiana flüsterte: „Ich glaube, du bist ein sehr wichtiger Mensch für diese Welt, egal was passiert. Würde ich dich nicht kennen, würde ich dich bestimmt in meinem Leben vermissen."

„Ich dich auch.", antwortete Viktoria. Bald löste sie die Umarmung. „Das hat mich etwas aufgemuntert. Merci."

Das hatte gereicht? Kiana lächelte. „Wie schön."

Blumenbrechen (Wird Nicht Mehr Überarbeitet Und Auch Nicht Fortgesetzt)Όπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα