Kapitel 72: Die Schatten werden länger

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Ich fand Vincent, nachdem ich etwa zweihundert Meter in den dichten Wald hineingegangen war. Er stand an einen dicken Baumstamm gelehnt da und blickte mit noch immer wütendem Gesichtsausdruck zu Boden. Um ihn herum sah ich einige verkohlte Stellen im Waldboden und ein stechender Geruch lag in der Luft, was bedeutete,dass er seinen Frust offenbar nicht nur an seinem Vater ausgelassen hatte. Als ich mich ihm durch das raschelnde Unterholz näherte, sah er auf und wirkte gleich weniger wütend.

„Du bist es", begrüßte er mich merkwürdig tonlos.

„Der arme Boden kann aber nichts dafür", gab ich zurück.

Vincent seufzte. „Ich weiß." Ich ging weiter, bis ich neben ihm stand. Verlegenheit überkam mich. Wie mochte das nur aussehen, wenn ich ihm einfach so nachging? Ich musste ja völlig verknallt wirken!

Nun, meldete sich eine kleine Stimme in meinem Kopf, das bist du ja auch, Jane.

„Äh...ist mein Vater jetzt hinter mir her oder nicht?", fragte Vincent und zog eine Grimasse. „Denn wenn ja, sollte ich definitiv das Weite suchen."

Ich grinste. „Nein, vorerst wahrscheinlich nicht. Er war zu verblüfft von deiner Aktion. Aber er ist sehr wütend."

„Oh ja, das kann ich mir vorstellen", murmelte Vincent bitter und stöhnte. „Habe ich das wirklich getan?! Sag mir, dass ich es nicht getan habe! Er wird mich umbringen!"
„Du hast es getan",sagte ich unberührt. Seid wann interessierte Vincent, was andere von seinen Aktionen hielten?! Es hatte ihn doch sonst nicht gekümmert, wenn Lehrer mit ihm schimpften, weil er keine Hausaufgaben gemacht hatte oder nicht gelernt hatte. Ich hatte teilweise sogar das Gefühl, dass er absichtlich kein perfekter Schüler war, um seinem Vater eins auszuwischen. Aber in diesem Moment schien es, als hätte er richtige Angst vor seinem Vater.

Nicht, dass ich es ihm verdenken konnte, aber er war sein Sohn. Er mochte seinen Vater vielleicht nicht, aber er sollte definitiv keine Angst haben. 

Ohne, dass einer von uns beiden etwas sagte, machten wir uns auf den Rückweg. Ich beobachtete Vincent von der Seite. Er war seinem Dad echt unglaublich ähnlich, wenn er wütend war - und seine Wut war ganz offensichtlich noch nicht verraucht.

„Ich hasse ihn!", presste Vincent mit plötzlicher Heftigkeit zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich hasse ihn! Er ist das größte Arschloch der Welt! Ich schäme mich dafür, überhaupt mit ihm verwandt zu sein!"

Ich glaubte auch nicht, dass ich Simon Spencer mögen würde, wäre er mein Vater.

„Es ist doch nicht deine Schuld, dass er dein Vater ist. Und ja, er ist ein Arschloch. Aber besser als... mh, lass mich überlegen... solche Leute wie Reynolds... oder Lucien Alexander."

Vincent brachte ein müdes Lächeln hervor. „Ach, wenn du wüsstest."

„Was?", fragte ich ihn zögernd.

Erschüttelte den Kopf. „Nichts."

„Wenn ich was wüsste, Vincent?"

Aber er beantwortete die Frage nicht, er tat einfach so, als hätte er sie überhört. Stattdessen fragte er: „Wer, denkst du, macht so etwas? Einen schwarzmagischen Zauber mitten auf dem Schulgelände durchführen?"

Ich dachte mit einem Schauder an das zurück, was ich eben gesehen hatte. Die kalte, unwirkliche, aber äußerst mächtige Magie, die ich gespürt hatte.

„Keine Ahnung – aber es wird wohl ein Schüler gewesen sein, oder? Wer sonst sollte auf dem Schulgelände ein schwarzmagisches Ritual durchführen?"

Magie - Wolf's EyesTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon