Kapitel 1: Mein ganz normales Leben

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Montag, 18. Mai 2015. Fünf Tage zuvor

Gelangweilt sah ich auf die Uhr, zum mindestens zwanzigsten Mal in dieser Geschichtsstunde. Und wünschte mir, die Zeit würde schneller vergehen, auch wenn ich nur noch zehn Minuten zu überstehen hatte. Ich hatte die gesamte Stunde eigentlich damit zugebracht, darauf zu warten, dass sie vorbeiging. Dummerweise schien die Stunde, je ungeduldiger man war, nur noch länger zu werden. Jessica neben mir ging es nicht anders; sie hielt ihr Mobiltelefon geschickt hinter ihrem fetten Geschichtsbuch versteckt und tippte immer dann massenweise Nachrichten an ihre Freunde, sobald Haydon uns den Rücken zugedreht hatte, um an die Tafel zu schreiben. Die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Nachrichten schrieb, war rekordverdächtig, und mir wurde meist schon vom Zusehen schlecht.

Haydon war der langweiligste Lehrer der gesamten Schule und dementsprechend aufmerksam war auch seine Klasse. Ein paar Reihen hinter uns kicherten und flüsterten andere Mädchen aus unserem Jahrgang und die Jungs ließen eine Tüte Chips herumgehen. Zum Glück interessierte Haydon das überhaupt nicht; manchmal hatte ich das Gefühl, dass er die Leute dahinten schon aufgegeben hatte, während er sich bei uns beiden noch ein wenig bemühte. Als würde es ihm etwas bringen. Die Einzigen, die ihm zuhörten, waren die Streber vorne in der ersten Reihe.

Ich unterdrückte ein Gähnen, rieb mir die schweren Augenlider und versuchte, einen Blick auf Jessies Bildschirm zu erhaschen, aber Jessie hatte es schon eilig ausgeschalten, denn in dem Moment wandte Haydon sich an die Klasse und redete über irgendwelche Notizen, die er angeschrieben hatte. Ich sah auf mein Blatt. Es war zur Hälfte gefüllt. Irgendwann nach zwanzig Minuten hatte ich aufgehört, ihm zuzuhören. Schnell versuchte ich, das Zeug, was vorne an der Tafel stand abzupinseln, bevor Haydon mit dem Schwamm kam. Er hatte ihn nämlich schon in der Hand - ein Zeichen dafür, dass sein Tafelbild gleich dran glauben musste. Er schrieb in Rekordzeit an, wischte aber genauso schnell alles wieder ab, sodass ich mir sicher war, ein oder zwei Tafelbilder verpasst zu haben.

„Miss Gardner, was denken Sie denn, was denn ein weiterer Grund für das Ausbrechen des zweiten Weltkriegs war?"

Jessie sah schnell von ihrer Nachricht auf und versuchte herauszufinden, an welcher Stelle des Unterrichts wir angekommen waren. Ich verdeckte mein Grinsen. „Äh", sagte Jessie geistreich. „Zweiter Weltkrieg." Schnell besah sie sich das Tafelbild und rechnete eins und eins zusammen. Dann gab sie eine Antwort, die Haydon offenbar zufriedenstellte. Das zeigte wieder einmal, dass Jessie sehr wohl sehr gut sein konnte, wenn sie es denn wollte. Ähnlich wie ich...

Es war ja nicht so, dass wir es nicht versuchten... nur war es eben verdammt schwer, Haydon zuzuhören und dabei nicht einzuschlafen. Deswegen gingen wir meist dazu über, nicht zuzuhören.

Zum Glück schrieb Mary, die eine Reihe vor uns saß, mit. Das tat sie immer und sie konnte sich wirklich zu jeder Zeit konzentrieren. Leichtfertig gab sie nicht ihre Notizen preis, aber ich half ihr im Gegenzug immer mit ihren Mathehausaufgaben. Mathe war nicht Marys Stärke, egal wie sehr sie sich anstrengte. Im Gegenzug dazu hatte ich mit Mathe nie Schwierigkeiten gehabt.

Ich fand viele Fächer langweilig, aber Mathe gehörte nicht dazu. Manche Fächer interessierten mich einfach nicht, was meist an dem Lehrer lag. Deswegen sahen meine Noten vermutlich auch nicht ganz so gut aus, wie sie eigentlich sein könnten.

Die Konzentration, die ich für ein paar Minuten aufgebracht hatte, verschwand bald wieder. Gedankenverloren kritzelte ich auf meinem Blatt herum und mit ein paar Strichen erschienen mystische Figuren, die aus meiner Fantasie entsprangen.

Jessica Gardner war schon meine beste Freundin gewesen, seit ich mich erinnern konnte. Sie hatte schwarzes buschiges Haar, schokoladenbraune Haut und das strahlendste Lächeln der ganzen Welt. Immer voller guter Laune, kreativer Ideen und verrückten Gedanken. Jessie wollte Schauspielerin werden, sie liebte bunte, schrille Kleidung, in Farbkombination, bei denen sich bei mir alle Haare auf dem Rücken sträubten, doch seltsamerweise stand ihr einfach alles. Ich liebte meine Freundin so, wie sie war – vollkommen unabhängig, unbeeindruckt von dem, was Leute über sie dachten, und eine gute Freundin.

Magie - Wolf's EyesWhere stories live. Discover now