Kapitel 60 - Die dritte Ebene - Part 2

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Sofort verspürte ich ein seltsam angenehmes Prickeln in meinen Fingern, als würde Magie durch sie hindurchfließen, aber ich wusste ganz genau, dass es etwas anderes sein musste. Die geisterhafte Chronik fühlte sich wie kühles Wasser auf meiner Haut an und ich musste mich zusammennehmen, um nicht überrascht zurückzuzucken. Die Kälte breitete sich in meiner Hand aus, lief meinen Arm nach oben, bis sie meinen gesamten Körper in Besitz genommen hatte und ich mich nur mit Mühe hätte lösen können. 


Die Gestalt des Mädchens war... hübsch. Sie war klein, kaum ein Meter sechzig groß, aber ihr Körper schien stark und auf dem Höhepunkt ihrer jugendlichen Kraft. Ihr kurzes, verstrubbeltes Haar hatte sie sich zu einem kleinen Zopf zurückgesteckt. Ich fragte mich, ob ihre Erscheinung die zum Zeitpunkt ihres Todes wiedergab, oder ob sie den Charakter und das Leben des Menschen wiedergab, die die Chronik repräsentierte. Ob die Kleidung, die sie hier trug, auch jene war, die sie im Leben gerne getragen hatte. Ich vermutete zumindest, dass diese Theorie stimmte.

Nur zu, sagte James in meinem Kopf. Du musst lediglich fragen. Sei aber vorsichtig, sie kann zu dem Schluss kommen, dass sie dir nicht vertrauen will. Und auch wenn Chroniken nicht lügen können, können sie sich dazu entschließen, einfach keine Antwort zu geben, und nicht alle Macht der Welt kann sie dazu bringen, ihr Schweigen zu brechen.

Ich musste einen Aufschrei unterdrücken, als die Chronik begann, in meinem Kopf mit mir zu sprechen.

Wer bist du?, fragte sie mich mit seltsam nachhallender Stimme, die vielfach wiederhallte, als würde sie vom anderen Ende eines großen Saales mit mir sprechen. Ich hatte eher erwartet, dass ich diese erste Frage stellen würde.

Ich bin Jane Watson, antwortete ich ihr.

Ich kenne dich nicht, murmelte die Chronik und klang seltsam abweisend. Was willst du von mir?

Zögernd suchte ich nach einer Antwort. Ich möchte... dich gerne näher kennenlernen. Wie heißt du?

James hatte Recht gehabt, als er sagte, Chroniken seien vorsichtig Fremden gegenüber. Diese jedenfalls ließ sich eine ganze Minute Zeit, in der sie mich schweigend musterte, ehe sie ihre Antwort gab.

Ich bin Elya Sevenard, sagte sie schließlich mit emotionsloser Stimme. Sie schien Vertrauen zu mir zu finden, denn sie sprach weiter, ohne dass ich sie dazu auffordern musste. Tochter von Alexey und Diana Sevenard. Ich bin mit James befreundet.

Mit James befreundet? Wiederholte ich und warf einen kurzen Blick zu meinem Lehrer, der mich mit nichtssagender Miene beobachtete.

Ja. Wir gingen gemeinsam zur Schule. Wir haben zusammen unsere Ausbildung als Krieger durchlebt, und seitdem ist er immer ein enger Freund an meiner Seite.

Mir fiel auf, wie die Chronik die Gegenwartsform benutzte, sobald sie von sich und James sprach. Andererseits war sie nur eine Aufzeichnung und kein lebendiges Wesen. Sie spiegelte nur Elya Sevenards Erinnerungen und ihren Charakter wieder, also konnte sie doch nicht denken, dass sie tot war, oder? Sie war wie ein Buch, welches man öffnen und lesen konnte – bis auf den Unterschied, dass sie ein gewisses Maß an Charakter besaß und ihre Seiten auch sofort verschließen konnte, sollte sie jemandem nicht trauen. Besonders jenen Personen, denen sie auch im echten Leben nicht getraut hatte.

Du warst also Kriegerin? Fragte ich interessiert, hast du mit James zusammengearbeitet?

Sie lächelte verkrampft. Wohl kaum. Er wurde schnell zum Hauptmann, während ich nie irgendwelche hohen Ränge bekleidete. Niemand traute es mir zu. Und ich hatte auch nie große Chancen, meine Position zu verbessern. Dafür kam mein Tod zu früh.

Magie - Wolf's EyesOpowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz