Code Janus - Teil 8 - Das Ende

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Er sprang. Oder, um genau zu sein, er ließ sich fallen und das hier, das war der Augenblick, wo alles vorbei war.
Einen winzigen Moment lang fühlte es sich so an, als würde die Welt stillstehen.
Der Moment, auf den ich so lange hingearbeitet hatte.
Und doch ...
Ich sah, wie er sich abstieß und dann, obwohl ich darauf gewartet hatte und obwohl es genau das war, was ich von ihm erwartet hatte, konnte ich in dem Moment nicht hinschauen und schloss die Augen.
Ich sah ihn nicht fallen. Ich sah nicht, wie er aufkam ... nun, wie er hinter dem Dach des Wirtschaftstraktes verschwand ... ich konnte nicht.
Und so sehr ich es hasse, das zugeben zu müssen.
Das ist letztendlich der Grund, weshalb da dieser winzige Zweifel in mir existiert.

Ich meine, natürlich ist er gesprungen, aufgekommen und dabei ums Leben gekommen.
Ich sah, wie er absprang und ich hörte den Aufprall. Oh Gott, ich hörte es, so ein dumpfes Aufklatschen ...
Und natürlich sah ich ihn wenige Sekunden später, nachdem ich um das Flachgebäude herumgelaufen war dort liegen. In einer beachtlichen Blutlache.
Und doch. Irgendwo tief in mir nagt dieser winzige Zweifel.

Das ist natürlich Unsinn. Ich rannte wie gesagt los, nachdem ich den Aufprall gehört hatte. Immerhin gab ich immer noch den völlig entsetzten, verzweifelten John Watson. Und auch wenn mich auf dem Weg dorthin ein rücksichtsloser Fahrradfahrer rammte (der hatte verdammtes Glück, dass ich einfach andere Sorgen hatte, als mich um ihn zu kümmern. Das ist der einzige Grund, dass er überlebt hat!), waren es nur wenige Sekunden, bis ich bei ihm war.
„Lassen Sie mich zu ihm", schluchzte John Watson, „er ist mein Freund ..."
Natürlich hielt man mich zurück, wie Ameisenmenschen das eben tun, wenn sie glauben, für ihre seltsamen moralischen Begriffe das Richtige zu tun.
Aber ich sah das Blut. Ich sah seinen zerschmetterten Kopf. Ich sah seine blutverschmierten Locken. Ich sah seinen Mantel.
Ich sah ihn.
Zerschmettert.
Zerschellt.
Zersprungen.

Und abgesehen davon hatte mir später Mary, die ihn ja die ganze Zeit im Auge behalten hatte bestätigt, dass er gesprungen ist. Und noch drei weitere meiner Leute, die ich in der Nähe als Beobachter postiert hatte, haben das Gleiche ausgesagt.
Es existieren jede Menge YouTube Aufnahmen, denn irgendwelche Gaffer haben heutzutage immer ihr Handy dabei.
Ich kann also zusammenfassend sagen, dass dieser klitzekleine Zweifel, so sehr er auch an mir nagt, eine unbedeutende Fehlfunktion meines sonst so präzisen und analytischen Gehirns ist.

Wenn ich darüber nachdenke wird mir klar, dass die Zweifel erst später einsetzten, als ich Zeit hatte, über alles nachzudenken. Was einmal mehr beweist, wie unsinnig und dumm sie sind. Denn in dem Augenblick als es geschah, lag einfach alles ganz glasklar vor mir.
Sherlock war tot.

Aber auch Moriarty war tot. Denn wenn ich auch natürlich noch lebte, war doch der, den die Welt für Moriarty gehalten hatte, tot. Und selbst, wenn irgendwann ein paar kluge Ermittler möglicherweise herausfinden würden, dass er nicht der war, für den er sich ausgegeben hatte – bis dahin wäre meine Organisation dem Erdboden gleichgemacht. Dafür würde meine Konkurrenz (obwohl diese natürlich nie eine wirkliche Konkurrenz für mich gewesen war) und natürlich die Ordnungshüter sorgen.
Und ich würde in aller Ruhe meine neue Organisation aufbauen, unter anderem Namen und mit einer Menge neuer Ideen.
Insofern war Moriarty auch tatsächlich tot.

Wie eine lauernde Spinne im Hintergrund würde ich erneut ein Netz spinnen.
Geld und Besitz hatte ich natürlich zu diesem Zweck rund um den Erdball versteckt und angelegt.
Mir würde es an nichts fehlen.
Nun ja, außer vielleicht ... So jemanden wie Sherlock, der mir beinahe ebenbürtig ist. So jemanden noch einmal zu finden, würde mir wohl nicht mehr gelingen. Aber wer weiß schon, was das Schicksal für seltsame Wendungen bereithält.
Ich bin nicht der Pessimist, der sagt: Das Glas ist halb leer.
Ich bin auch nicht der Optimist, der sagt: Es ist halb voll.
Ich bin der Pragmatiker, der sagt: Egal, man kann es austrinken und anschließend wieder füllen!

Wie würde meine Zukunft aussehen?
Nun, da war Mary ... John Watson würde sie offiziell kennenlernen. Sie würde dem armen gebrochenen Mann wieder aufrichten und seinem Leben wieder Sinn geben. Ich würde sie heiraten.
Und irgendwann würde John Watson dann beschließen, mit seiner Frau irgendwo auf der Welt, weit weg von den alten Erinnerungen, ganz neu anzufangen.
Und dann, verschwunden aus dem Dunstkreis der alten Bekannten?
Nun, wahrscheinlich würde ich Mary noch eine Weile behalten. Sie war immerhin eine angenehme Gesellschaft. Wie eine gelehrige Katze, die man gern auf dem Schoss hat, weil man das Schnurren mag und weil sie einem wärmt.
Würde sie jedoch irgendwann zu kratzen beginnen, würde ich auch Mary's Existenz beenden.
Und dann?
Vielleicht sollte ich mir eine richtige Katze anschaffen.
Ich mag Katzen.

Doch zurück zu jenem Augenblick auf dem Pflaster vor dem St. Barts.
Es nieselte immer noch.
Ich hockte auf dem Boden und bekam alles um mich herum mit schärfster Klarheit mit.
Sie hatten Sherlock fortgeschafft und ein Ameisenmensch in medizinischer Kleidung, der einem der Rettungswagen entstiegen war die man gerufen hatte, kümmerte sich um „John Watson". Man hatte mir eine Schockdecke umgehängt. Ich hätte beinahe geschmunzelt. Zu Anfang unserer Bekanntschaft hatte Sherlock eine Schockdecke bekommen.
Damals hatte ich einen Taxifahrer erschossen um damit Sherlock zu retten.
Diesmal war Sherlock gestorben, und ich wollte endlich in ein Taxi.
Irgendwie absurd. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um bei dem Gedanken nicht zu kichern.
Irgendjemand hatte mir einen Becher mit einem heißen Getränk in die Hand gedrückt. Was auch immer das sein sollte, Tee, Kaffee, es schmeckte scheußlich.
Jetzt eine Tasse Darjeeling Finest Tippy Golden Flowery Orange Pekoe ... Oder auch einen Lady Grey mit Milch. Am besten Heumilch von deutschen oder östereichischen Alpenkühen.
Ach ja.
Stattdessen hatte ich dieses Gebräu.

Man versuchte mich zu überzeugen, mich ins Krankenhaus bringen zu lassen. Aber ich wehrte mich.
Ich bat, mich einfach in Ruhe zu lassen. Es gehe mir gut, verdammt noch mal und ich wolle nur alleine sein!
Und dann stellte ich den Becher ab, warf die Decke zu Boden und stand auf.
Ich stammelte eine Art Dankeschön, es würde schon gehen und ich bräuchte jetzt Zeit für mich.
Man nickte, ermahnte mich aber wenn irgendetwas wäre, sofort in die Klinik zu kommen.
Und mir jemand zum Reden zu suchen ... Freunde oder Familie ...
Ja, klar doch.

Ich ließ sie reden.
Es lag nun alles hinter mir.
Alles was ich mit Sherlock erlebt hatte.
Alles, was die letzten Monate, ja Jahre ausgefüllt hatte.
Unsere gemeinsamen Jagden.
Unsere stillen Abende vor dem Kamin.
Unsere leidenschaftlichen Stunden in seinem, unserem Schlafzimmer.
Unser Lachen, unser Streiten.
Mein abenteuerliches Doppelleben.

All das lag jetzt hinter mir.

Never look back.
Ne regarde pas en arrière.
Non voltarti indietro.
Schau nicht zurück.

Ich wischte mir einen weiteren vorwitzigen Regentropfen aus dem Augenwinkel.
Dann drehte ich mich um.

Und ging.

Das Janus ProjektWhere stories live. Discover now