Studie in Pink - Teil 4

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Sherlock gelang es sofort, ein Taxi zu bekommen und wir stiegen ein.
Ein Taxi ... ein wenig Ironie schwang in der Situation schon mit ...

Ich wusste, wer er war und was er tat, selbstredend. Aber als John Watson konnte ich es nicht wissen. Also schaute ich ihn auf eine Weise fragend an, sodass er nicht umhin konnte zu sagen:
„Was möchten Sie wissen?"
„Sherlock, warum zieht die Polizei Sie zu einem ungelösten Fall hinzu?"
„Weil sie weiß, dass ich ihn lösen werde."
Er schmunzelte.
„Aber", sagte ich, „die Polizei zieht keine Amateure hinzu."
„Stimmt", sagte er. „Allerdings bin ich Consulting Detektive, der einzige Weltweit. Ich habe den Beruf erfunden."
Und dann zeigte er mir, was er konnte.

Er erklärte mir, woran er gestern im Labor die „Fakten" über mich erkannt zu haben glaubte.
Mein Haarschnitt, meine Haltung ... er hatte es wie gewünscht als militärisch geprägt erkannt.
Meine Bemerkung zu Mike hatte ihm vorgegaukelt, dass ich am Barts ausgebildet worden sei. Also Militärarzt.
Die Sonnenbräune, nur Gesicht und Hände, ließen ihn auf den Auslandseinsatz schließen.
Perfekt.
Ich gab mir innerlich ein „High Five".

Er fuhr fort.
Das Handy, modern, mit teurem Schnickschnack, passt nicht zu einem Militärarzt mit magerer Pension, also ein Geschenk.
Ein naher Verwandter, zu modern für einen Vater und vermutlich kein Cousin, auch das begründete er.
Er schloss aus der Gravur „Von Clara für Harry", den Schrammen, der zerkratzten Ladebuchse sowie dem relativ neuen Modell, genau so wie ich es geplant hatte, auf meinen alkoholkranken Bruder, der sich wegen der Trinkerei kurz zuvor von seiner Frau getrennt hätte.

Er war brillant in seinen Schlussfolgerungen.
Ich war absolut brillant in dem gewesen, was ich ihm da zum Fraß vorgeworfen hatte.
Ich holte tief Luft und sagte:
„Das ... war wirklich eindrucksvoll."
Und zum ersten Mal hatte ich, Jim, die gleiche Meinung wie ich, Dr. Watson.

Ich gebe zu, dass ich in dem Moment meine Genialität feierte.
Dann schaute ich zu Sherlock hinüber, der ausgesprochen selbstgefällig grinste.
Meine Laune verfinsterte sich.
Niemand außer mir hatte so selbstgefällig zu sein. Niemand, auch nicht er!
Ich bin brillant, ich bin genial und niemand hat ...
Als wir aus dem Taxi stiegen und er mich auch noch fragte:
„Lag ich mit irgendetwas falsch?", in der sicheren Erwartung, dass er selbstverständlich mit gar nichts falsch lag konnte ich nicht anders, als ganz spontan eine Kleinigkeit zu ändern.
Ich sagte:
„Es war alles richtig, nur... Harry steht für Harriet. Sie ist meine Schwester."
„Schwester! Verdammt ..."
Sein Grinsen entgleiste ihm.
Gut so.

Niemand kratzt meine Genialität an. Niemand.

Okay, okay, das war unnötig gewesen und ich sollte aufpassen, dass ich nicht durch solche Aktionen meine ganze Planung gefährdete. Nun, Johns Bruder existierte bisher nur virtuell. Ihn in eine Schwester zu verwandeln, war letztendlich kein großes Problem.
Trotzdem. John Hamish „Jim" Moriarty, dachte ich, du bist ein genialer Planer, nur manchmal geht einfach dein Temperament mit dir durch.

Die nächste halbe Stunde hatte ich Zeit, weitere Personen des Dramas kennenzulernen. DI Lestrade, der ja vorhin nur kurz durch die Wohnung in der Bakerstreet gerauscht war; Sergeant Donovan, die es wagte Sherlock, der ja immerhin fast so genial war wie ich, einen Freak zu nennen; Anderson, der ... nun, ich konnte nach wenigen Worten dieses ... Menschen ... verstehen, dass Sherlock ihn ansah als wäre er ein Stinktier mit Syphilis.
Und ich konnte im Verlauf des Abends erneut Sherlocks Deduktionen erleben.
Es war faszinierend.

Wie er herausfand, dass die Frau aus Cardiff stammte; dass sie Liebhaber hatte; dass sie über Nacht in London bleiben wollte, dass das Wort, was sie versucht hatte vor ihrem Tode in den Holzboden zu kratzen der Name „Rachel" war; dass es einen Koffer geben musste.
Ich war so stolz auf ihn.
Nun gut, ich, Moriarty, hätte ihm noch ein paar mehr Details nennen können. Als Dr. Watson stellte ich jedoch nur die Todesursache und ein paar unbedeutende Kleinigkeiten fest.

Wie ich es ihm angewiesen hatte, hatte der Taxifahrer den Koffer der Frau mitgenommen und auf einem Müllplatz deponiert.
Ich war gespannt, ob Sherlock ihn finden würde und ob er herausfinden würde, was darin fehlte, nämlich ihr Handy, das, wiederum auf meine Anweisung hin, beim Taximann geblieben war.
Und natürlich fand Sherlock es heraus.
Aber bis es soweit war, war er erst mal ohne mich vom Tatort abgerauscht.
Er hatte mich einfach dort stehen lassen.

Sherlock, Sherlock, das ist sehr ungezogen von dir ... am liebsten würde ich dir solche Unarten gehörig austreiben...

Nun ja, ich verabschiedete mich und begab mich auf die Suche nach einem Taxi.
Ich war versucht, den Taximann anzurufen bzw. über die Taxizentrale genau seinen Wagen zu bestellen.
Das wäre doch eine herrliche Ironie gewesen, mich von dem gedungenen Mörder nach Hause fahren zu lassen ... man stelle sich vor, der würde mich, Moriarty, als nächstes Opfer auserwählen ... das konnte leicht passieren, denn er hatte ja keine Ahnung, wer ich war und kannte mein Gesicht nicht. Und mit meinem harmlosen Aussehen und meinem Hinken wäre ich in seinen Augen sicher ein leichtes Opfer.
Es wäre doch zu komisch gewesen.

Ich hatte gerade mein Handy gezückt als die Telefonzelle, neben der ich mich gerade befand, zu klingeln begann.
Ich zögerte einen Augenblick, dann ging ich hinein und nahm den Hörer ab.
„Dr. John Watson?"
„Ja?"
„Steigen Sie in den Wagen!"
Ein schwarzer Wagen hielt am Straßenrand. Eine beeindruckende Limousine.
Ein neuer Mitspieler auf dem Schachbrett?
Nun, das sollte mir recht sein, es war ohnehin nicht zu bezweifeln, dass ich in diesem Spiel der weiße König war. Denn die Farbe Weiß ist die, die auf Grund des Vorteils des ersten Zuges wesentlich häufiger gewinnt.
Und ich würde gewinnen.
Wer immer diesen Wagen geschickt hatte, konnte bestenfalls ein Bauer sein.

Das Janus ProjektWhere stories live. Discover now