Der Weg zum Abgrund - Teil 6

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Immer mehr kritische Stimmen ließen sich in der Presse vernehmen. Immer mehr Zweifel daran, dass Sherlock all das, was er geleistet hatte, tatsächlich zu leisten in der Lage war. Und immer mehr Vermutungen kamen auf, dass vieles davon nur Show war, in welcher Form auch immer.
Ein kleiner Artikel hier, ein Nebensatz dort.
Keine Behauptungen, gegen die man hätte vorgehen können. Aber Fragen, die gestellt wurden und Zweifel säten.
Ich rieb mir die Hände.

Und dann sorgte ich dafür, dass Richard bei Kitty Reilly unterkam. Der kleinen halbgaren Journalistin mit dem Drang zu Höherem. Die natürlich aus rein selbstlosen Motiven handelte und keinesfalls wegen der Enthüllungsstory, die für sie dabei heraus springen würde.
Selbstverständlich.
Er wohnte bei ihr und sie hatte die Aufgabe, sich um ihn zu kümmern, zu recherchieren und die große Story vorzubereiten. Sie war ein unfähiges kleines Ding, also genau richtig für mich. Ich ließ ihr die Infos zukommen, die ich wollte und sie schluckte alles.
Wirklich sachlich zu recherchieren und kritisch zu hinterfragen, lag außerhalb ihrer Kompetenz und genau deswegen hatte ich sie ausgewählt.

Hier war also der Kessel am brodeln und auch an anderer Stelle.
Ich ließ die Kinder eines Botschafters entführen. Das war eine große Sache und es dauerte nicht lange, bis Lestrade Sherlock dazu holte.
Und der legte los, sprühte geradezu vor Einfallsreichtum.
Es war eine klassische Sherlock'sche Ermittlung mit sprunghaften Ideen, sorgfältig durchgeführten chemischen Analysen und dem ausgeprägten und teilweise seltsamen, auf jeden Fall aber beeindruckenden Detailwissen, das er in seinem Gedächtnispalast verbarg.
Natürlich fand er heraus, wo die Kinder sich befinden mussten und wir machten uns mit großem Polizeiaufgebot auf den Weg dahin.

Es faszinierte mich immer wieder, so eng in die Arbeit der Polizei eingebunden zu sein. Ja sogar aktiv beim Lösen von Fällen und somit beim unschädlich machen von Verbrechern mitzuhelfen. Du meine Güte, Lestrade hätte sich vermutlich umgebracht, wenn ihm klargeworden wäre, wer da hinter seinem Tatorttrumpf Sherlock hinterher trottete.
Der Gedanke ließ mich, seit langem wieder mal innerlich grinsen.

Und dann schweiften meine Gedanken zurück zu jenem Tag vor ein paar Wochen, als ich auf meinem geheimen Laptopzugang eine Email verschlüsselten Inhaltes bekommen hatte. Sie war von einem meiner Handlanger in Deutschland, genau gesagt Berlin und zeigte Videoaufnahmen eines jungen Mannes, der eine beeindruckende Ähnlichkeit mit Sherlock aufwies.
Er war groß, schlank, hatte diese schwarze Wuschellockenfrisur und ein ähnlich geschnittenes Gesicht. Seine Augen waren dunkler und insgesamt wirkte er in seiner Art sich zu bewegen, wesentlich tölpelhafter. Darüber hinaus war er obdachlos und somit einem guten Angebot zugänglich.
Meine Leute bekamen das Go von mir und kümmerten sich um den jungen Mann.

Er bekam erst einmal eine ordentliche Dusche, einen passenden Haarschnitt und neue, saubere Kleidung. Die Aussicht auf ein warmes Bett und ausreichend zu essen reichte allein schon aus, ihn davon zu überzeugen, mit uns zusammen zu arbeiten. Natürlich ließen wir ihn im Dunkeln darüber, worum es eigentlich ging.
Er wurde nach London gebracht, wo ich ihn mir anschaute. Natürlich ohne dass er mich sah.
Und ja, er entsprach meine Vorstellungen.

Er sprach kein Wort englisch und der Versuch, ihm ein paar Sätze beizubringen, scheiterte kläglich. Er war, nun sagen wir mal vorsichtig, nicht die hellste Lampe am Leuchter.
Aber mit vernünftiger Kleidung, vor allem einem Bellstaff, und den Künsten einer guten Maskenbildnerin, die in meinen Diensten stand, war er Sherlock beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten.
Tatsächlich gelang es ihm sogar, mithilfe eines Tanz-und Bewegungslehrers in seinen Bewegungen die Trampelhaftigkeit abzulegen und etwas weicher und fließender zu werden. Natürlich erreichte er niemals Sherlocks Eleganz, das konnte niemand, aber es sollte genügen.
Ein wenig erinnerte der junge Mann mich an einen gelehrigen Schimpansen, der die Gesten seiner Tiertrainer nachahmt, aber nie begreifen wird, was sie bedeuten.

Nun, er genügte meinen Ansprüchen, als ich ihn abschließend begutachtete. Er würde ohnehin nur noch ein paar Tage gebraucht werden. Danach wäre Schluss, endgültig. Meine Leute würden seine Ähnlichkeit zu Sherlock so weit wie möglich zerstören. Nun, vielleicht würde ich mir dieses Vergnügen auch selbst gönnen und dann würden Lestrades Leute ihn aus der Themse fischen.
Allerdings fand ich, hatte er durchaus Grund, mir dankbar zu sein. Denn immerhin würde er seine letzten Tage auf Erden für seine Verhältnisse herrlich und in Freuden verleben. Und dafür kann man wohl Dankbarkeit erwarten, oder?

Seine Aufgabe war, bei den entführten Kindern des Botschafters aufzutauchen, bedrohlich aufzutreten, ihre Fesseln zu überprüfen und ihnen zu Essen zu bringen.
Das tat er ganz gut und als Sherlock und ich nun in einem Polizeiauto auf dem Weg zu dem Ort waren, wo wir die Kinder tatsächlich finden würden, sandte ich eine SMS ab mit dem Wortlaut: „Schimpanse".
Meine Leute wussten nun, dass die Zeit des jungen Mannes auf Erden vorüber war und beförderten ihn, der auch nur ein Werkzeug gewesen war, ins Jenseits. Ich brauchte ihn nicht mehr.

Wir kamen bei der alten Schokoladenfabrik an und machten uns dort auf die Suche.
Donovan war es, die die beiden Kinder entdeckte. Sofort schwärmten Polizisten um sie herum und sie wurden befreit, ärztlich versorgt und zur Untersuchung in ein Krankenhaus gefahren. Ich sorgte dafür, dass Sherlock sich im Hintergrund hielt.
„Du hast das Wichtigste getan", sagte ich. „Die Kinder sind gerettet. Jetzt lass erst einmal die Anderen sich um sie kümmern. Du bist später wieder an der Reihe und dann kannst du helfen herauszufinden, wer hinter alledem steckt."

Ich stecke hinter alledem, mein Lieber, aber das wirst du nie herausfinden.

Tja, und dann kam der Moment, wo beide Kinder in einem warm eingerichteten Raum auf dem Polizeirevier befragt wurden.
Und nachdem Lestrade und Donovan soweit fertig waren, erlaubte man Sherlock, zu versuchen noch mehr herauszufinden.
Und es kam genau wie geplant.
Sie sahen ihn und das Mädchen schrie in heller Panik.
Sherlock wurde aus dem Raum gejagt und ich selbst war es dann der als erster den Satz aussprach:
„Die Kleine steht offensichtlich unter Schock, aber irgendetwas an Sherlock erinnert sie wohl an ihren Entführer."

Neue Zweifel.
Donovan nahm sie begeistert auf. Sie mochte Sherlock nicht und der Gedanke, dass er nicht nur ein Fake war, sondern am Ende einige der von ihm aufgeklärten Verbrechen selber begangen habe, um mit seinen angeblichen Fähigkeiten anzugeben, schien ihr nicht zu missfallen.

Dumme, dumme Donovan.

Das Janus ProjektWhere stories live. Discover now