Code Janus - Teil 7

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Na ja, wenn ich ganz ehrlich bin, wirklich aufschlagen sah ich es nicht, denn zwischen mir und der Stelle, wo es auf dem Pflaster aufkam, war ein flacher Wirtschaftstrakt des Krankenhauses. Aber eigentlich war das ganz okay so, denn Sherlock würde gleich den selben Weg hinab nehmen und auf ungefähr der selben Stelle aufschlagen. Und ein ganz kleiner Stich Sentimentalität in meinem Herzen sorgte dafür, dass ich den Aufprall nicht wirklich sehen wollte. Was würde es auch für einen Unterschied machen, denn wenn er erst einmal sprang, war er tot.

Wobei das mit dem Herzen ja Blödsinn ist, denn all diese Dinge, die Menschen als „Gefühle" bezeichnen, spielen sich nicht im Herzen sondern im Gehirn ab. Letztendlich sind sie tatsächlich nichts anderes als chenmische Abläufe irgendwelcher Botenstoffe. Und auf eine gewisse Anzahl/Summe dieser Abläufe reagiert eben das vegetative Nervensystem, das unter anderem die Herzfrequenz beeinflusst. Und diese Veränderung der Herztätigkeit haben die Menschen früherer Zeiten eben missgedeutet und sie als Ursache und nicht als Folge von Gefühlen erkannt.
Das änderte nichts daran, dass die Gewissheit des Endes mich sentimental machte.
Na ja, ich betrachtete es als eine weitere Erfahrung. Und wie alles im Leben würde auch das mit Sicherheit irgendwann und irgendwo einmal seinen Nutzen für mich haben.

Ich hatte Sherlock fest im Blick. Er stand auf der kleinen Umrandung und sah in den Abgrund zu seinen Füßen.
Er machte einen winzigen Schritt nach vorne.
Ich hielt den Atem an.

Der Nieselregen war wirklich unschön. Er hatte meine Kleidung inzwischen ziemlich durchweicht und ich sehnte mich nach einem Kaminfeuer und einem heißen Tee.
Ein paar kalte Tropfen waren in meinen Kragen gelaufen. Es fühlte sich scheußlich an.
Ich schauderte.

Herrgott Sherlock, nun mach schon.

Er setzte zu einem Schritt an und zögerte. Zog den Fuß wieder zurück.

Nun spring endlich!

Ich schluckte. Mein Hals war trocken.
Der Regen lief in meine Schuhe.

Von irgendwoher, aus der Tiefe meines limbischen Nervensystems, sprang mich eine Stimme an, die schrie:

Hör auf! Hol ihn da runter! Sag ihm dass das alles nicht stimmt, dass du John Watson bist und dann geh mit ihm nach Hause und vögle ihn und leb mit ihm bis an euer selig Ende! Das Leben als Watson war doch schön nicht war? Das Leben mit ihm? Mach doch einfach weiter damit! Dann hast du Ruhe, du hast ihn, ein Leben mit genug Sex und genug Abenteuern, dass dir nicht langweilig ...

„Nein!", schrie ich und stellte zu meinem eigenen Erstaunen fest, dass ich das laut gesagt hatte.
Egal, die Leute die sich inzwischen hier aufhielten und nach oben zu dem Selbstmörder auf dem Dach starrten ... irgendwer hatte inzwischen auch die Polizei gerufen ... es wurde wirklich Zeit, dass Sherlock sprang ... glaubten ich würde ihn meinen. Ihn anschreien, nicht zu springen.
Ich schüttelte mich und unterdrückte diese Stimme.
Selbst wenn ich diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht gezogen hätte, was ich nicht tat, wäre es nicht gut gewesen.
Es wäre kein Inhalt für ein ganzes Leben. Nicht für mich. Den großen Verbrecher Moriarty.
Früher oder später würde ich mich langweilen. Also Nein.
Nein!

Spring endlich, Sherlock, spring endlich!

Langsam ging mir der kalte Niesel wirklich auf die Nerven.
Nun ja, ich hatte immer noch die Möglichkeit Mary anzusimsen, dass sie abdrücken solle. Und wenn er nicht bald ...

In dem Augenblich breitete er die Arme aus.
Selbst von hier unten sah er wie ein Engel aus. Ein Engel, der sich anschickte, zu fliegen.
Ein Engel, dessen flatternder Mantel aussah wie schwarze Flügel, die sich ausbreiteten.

„I believe I can fly ..." ging mir durch den Kopf. Dieser Song von R. Kelly.
„I believe I can fly, I believe I can touch the sky ..."
Ich musste mich zusammen nehmen, um nicht die Melodie vor mich hinzusummen. Die dummen Menschen um mich herum hätten das vermutlich als unpassend empfunden und ich wollte als John Watson nicht unangenehm auffallen.

Jetzt spring, zum Teufel!

Der Himmel war grau.
Die Straße war nass und glänzte vom Regen.
Die Luft war feucht.
Die Wolken hingen schwer am Firmament.

Meine Füße waren eiskalt.
Meine Hände auch.
Meine Haare mit Regen vollgesogen.
Mein Hals begann etwas zu kratzen und ich musste niesen.
Himmel, was würde ich jetzt für eine Tasse Lapsang Souchong geben!

Nun spring!

Und dann sprang er.

Das Janus ProjektWhere stories live. Discover now