Studie in Pink - Teil 5

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Der Wagen fuhr mit mir kreuz und quer durch die Stadt und brachte mich schließlich zu einem Lagerhaus am Stadtrand.
Ich wusste genau wo ich war, schließlich kenne ich London wie meine Westentasche. Auch wenn ich international tätig bin, London ist mein Hauptquartier und hier kenne ich mich aus.
Als ich ausstieg war mir sofort klar, wer da in der spärlich beleuchteten, schmutzigen Halle vor mir stand.
Mycroft, Sherlocks Bruder.

Der war tatsächlich eine noch unbekannte Größe in meinem Spiel. Aber das machte es ja so spannend, nicht wahr? Seit ich gestern Vormittag in Sherlocks Leben getreten war, hatte ich mich noch nicht eine Sekunde gelangweilt und das war ja schließlich genau das, was ich wollte.

Dennoch. Als Mycroft dort vor mir stand, in seinem edlen Anzug von erstklassiger Qualität und mit seinem Gehabe, spürte ich, dass es durchaus Faktoren gab, die es mir schwer machen konnten die Rolle als John Watson vor aller Augen professionell durchzustehen und mich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen konnten.
Oh nein. Ich meinte damit nicht etwa Mycroft und seinen ebenfalls messerscharfen Verstand. Auch nicht die Tatsache, dass ihm, da er für die Regierung arbeitete, wohl die ein oder andere Möglichkeit zur Verfügung stand.
Nein, ich meinte die Tatsache, dass ich als John Watson nicht meine gewohnte hochwertige, maßgeschneiderte Bekleidung tragen konnte. Ich war es gewohnt, Anzüge aus luxuriösen Stoffen und von exzellentem Schnitt zu tragen.
Statt dessen blieben mir als John Watson nur billige Jeans und Shirts, ganz zu schweigen, von diesen unsäglichen Strickpullovern.
Bei dem Gedanken, dass sich das die nächsten Monate so durchziehen würde, lief mir ein Schauer über den Rücken.

Ich hatte vor, mir Zeit zu lassen, bis ich Sherlocks Tod verursachen würde. Doch in diesem Augenblick gab ich mir selbst die Erlaubnis es notfalls vorzuziehen, wenn ich denn diese Kleidung gar nicht mehr würde ertragen können.

Erst einmal musste ich mich nun aber mit Mycroft auseinander setzen.
Gut. Das konnte für mich durchaus eine Herausforderung werden, weil ich einfach nicht so viel über ihn wusste.
Apropos Wissen – ich, John Watson, wusste natürlich gar nicht, wer da eigentlich vor mir stand.
„Hören Sie, wer immer Sie sind, diese Sache mit der Telefonzelle war albern. Sie hätten mich auch auf meinem Handy anrufen können."
„Nun Dr. Watson, wenn man der Aufmerksamkeit von Sherlock Holmes entgehen will, lernt man, ungewöhnliche Wege zu gehen."

Oh Mycroft, das trifft genauso gut zu, wenn man genau diese Aufmerksamkeit erregen möchte.

„Sie sehen nicht sehr verängstigt aus", sagte er.
„Sie sehen nicht beängstigend aus", antwortete ich. Es war ein spannendes Spiel. Jede Sekunde musste ich neu abwägen, wie ich mich ihm darstellen wollte. Wie ich ihn dazu brachte, das in mir zu sehen, was er sehen sollte.

„Ach ja", sagte er und lächelte ein eiskaltes Lächeln, dem man ansah wie falsch es war. DAS kann ich besser.
„Die Tapferkeit des Soldaten. Tapferkeit ist bei weitem die netteste Umschreibung für Dummheit, finden Sie nicht?"
„Hören Sie", fragte ich. „Wer sind Sie?" Ich war gespannt, ob er aus der Deckung kommen würde.
„Eine interessierte Partei."
„Ich nehme nicht an, dass Sie sein Freund sind?"
„Freund, ha. Sie haben ihn erlebt. Was meinen Sie, wie viele Freunde er hat? Nein, ich bin das, was bei Sherlock Holmes einem Freund am nächsten kommt. Ich bin sein Feind. Er würde mich vermutlich als Erzfeind bezeichnen."

Wie lächerlich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein wirklicher John Watson diese absurde Situation empfinden würde. Vermutlich würde er Mycroft für etwas halten, was ich von mir zu sein behaupte: ein kriminelles Mastermind.
Mein Handy gab den Signalton für SMS von sich.
Es war Sherlock.
„Bakerstreet. Kommen Sie, wenn es passt. SH"
Mycroft sah mich fragend an. Ich gedachte jedoch nicht, auf die unausgesprochene Frage zu reagieren.

„Hören Sie", sagte ich. „Sagen Sie mir einfach, was Sie von mir wollen."
„Haben Sie vor, die Zusammenarbeit mit Sherlock Holmes zu vertiefen?"
„Ich mag mich irren, aber ich denke, das geht Sie nichts an."
Er lächelte immer noch.
„Dr. Watson, wenn Sie tatsächlich einziehen in die ...," er zückte ein kleines Notizbuch, „221 B Baker Street, dann könnte ich Ihnen monatlich eine bestimmte Summe zahlen, um Ihnen den Alltag zu erleichtern."
„Wieso?"
„Nun, Sie sind nicht reich. Sie könnten es gebrauchen, nicht wahr?"
„Welche Gegenleistung würden Sie verlangen?"
„Informationen. Nichts dramatisches. Halten sie mich einfach auf dem Laufenden über Sherlocks Alltag. Wissen Sie, ich sorge mich um ihn. Fortwährend."

Innerlich grinste ich. Dieser Mycroft war ganz nach meinem Geschmack.
Er hatte das Ganze geschickt angestellt. Aus seiner Sicht konnte er in dieser Situation nicht verlieren.
Entweder bekam er Informationen. Das war gut, dann wäre er auf dem Laufenden.
Oder aber John Watson würde ablehnen. Dann wüsste er zumindest, das sein Bruder jemand Loyales an seiner Seite hätte.
Klug gedacht.
Dumm nur, dass ich, John Watson, eben eigentlich John Moriarty war und als solcher rieb ich mir die Hände. Eine herrlich verzwickte Situation, die ich noch weidlich für mich ausnützen würde.

Erneut ertönte mein Handy.
"Wenn es gerade nicht passt, kommen Sie trotzdem. SH"
Es war an der Zeit für mich, das hier zu beenden.
Ich gab also den loyalen Mann.
„Nein", sagte ich, „und bevor Sie jetzt mit einer noch so hohen Summe kommen – nein."
Ich drehte mich um und wollte gehen.

Da zeigte Mycroft, dass er mir durchaus würde gefährlich werden können.
„Dr. Watson, Sie scheinen sehr schnell sehr loyal zu sein. Nun gut, es ist Ihre Sache. Sie sollten sich allerdings im klaren sein, warum Sie so schnell auf seiner Seite stehen. Ihre linke Hand verrät Sie."
Ich drehte mich zurück zu ihm.
Meine linke Hand.
Der Tremor. Den hatte ich, verdammt noch mal vergessen. Er hatte es tatsächlich geschafft, mich, MICH!, aus dem Konzept zu bringen.

„Ihre Therapeutin hält den Tremor für die Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie glaubt, er wird ausgelöst durch Erinnerungen an den Krieg. Feuern Sie sie. Sie stehen im Augenblick unter Stress und Ihre Hand ist absolut ruhig. Sie fürchten den Krieg nicht, Dr. Watson. Sie vermissen ihn."
Oh Mann. Ich mache nie Fehler.
Hier hatte ich ein paar Augenblicke lang geglaubt, einen gemacht zu haben.
Aber mein Unterbewusstsein hatte wohl kurz das Ruder in die Hand genommen und es genau richtig gemacht.
Es war KEIN Fehler gewesen, den Tremor zu „vergessen".

Ich sah Mycroft mit einem undurchdringlichen Blick an, bevor ich mich wieder umdrehte. Ich wollte die Lagerhalle verlassen, doch er rief mir nach:
„Steigen Sie ein. Der Wagen bringt Sie, wohin auch immer Sie möchten!"
Nun, das tat ich dann und ließ mich zuerst zur Baker Street bringen.
Das Spiel ging weiter.

Das Janus ProjektWhere stories live. Discover now