Prolog II - Was ich will

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Über die Jahre hinweg kam es in meiner Organisation zu einer ungesunden Entwicklung, denn zu viele Leute kannten den Namen Moriarty.
Erst einmal war das noch nicht weiter gefährlich, aber es gefiel mir nicht.
Noch war mein Name nicht in der breiten Öffentlichkeit bekannt, doch früher oder später würde es dazu kommen.

Es lief alles hervorragend, einfach zu gut. Es war ... langweilig, denn es gab keine Herausforderungen, keinen Nervenkitzel.
Langeweile ... sie ist mein größter Feind und eine Gefahr für meine direkte Umgebung.
So beschloss ich, etwas gegen diesen Zustand zu unternehmen.
Ich beschloss, meine Organisation aufzulösen und dann unter anderem Namen neu aufzubauen. Einfach ganz von vorn anzufangen, denn allein der Gedanke fühlte sich aufregend an.

Nun ist das ja nicht ganz einfach, wir reden hier immerhin von einer kriminellen Vereinigung.
Da kann man nicht einfach die Aktionärsversammlung einberufen, die letzte Dividende auszahlen, die Strukturen auflösen und die Mitarbeiter entlassen.
Eigentlich gab es nur eine einzige Möglichkeit: ich musste sterben.
Damit wäre meine Organisation, sei es für die Konkurrenz oder die Ordnungshüter, zum Abschuss freigegeben.

Selbstverständlich hatte ich nicht vor, tatsächlich meinem Leben ein Ende zu setzen. Nein, ich würde meinen Tod inszenieren. Ich würde ...
Ja, und als ich gerade begann alles zu planen, kam mir Sherlock Holmes in den Sinn.
Der Einzige, der mir wirklich und wahrhaftig beinahe ebenbürtig war.
Ich beschloss, ihn ins Verderben zu reißen. Ein Spiel mit ihm zu spielen und ihn dabei gleich noch zu zerstören.
Ja, das würde meine Langeweile vertreiben!

Und am Ende des Spiels, wenn ich der Sache überdrüssig geworden wäre, würde ich „sterben" und dafür sorgen, dass auch er starb.
Mehr noch, ich würde ihn dazu bringen, von eigener Hand zu sterben.
Ja, es würde ein großartiges Spiel werden!
Ich begann also, meinen Plan auszuarbeiten.

Ich wollte Sherlock Holmes nahe kommen, wollte in sein Leben treten und zwar so nah wie möglich. Ich würde versuchen, ihm etwas zu „bedeuten" und sein Herz zu berühren.
Denn im Gegensatz zu mir hat er eines, auch wenn er das bestreitet, und im Gegensatz zu mir ist er in der Lage, Mitgefühl und dergleichen zu empfinden.
Ich weiß nicht wie das geht, denn ich empfinde solcherart Gefühle nicht. Was nicht heißt, dass ich ganz gefühllos bin, beileibe nicht. Nur beziehen sich alle meine Gefühle auf mich.
Ich empfinde Freude, wenn ich einen Gegner erledige und Wut, wenn mir jemand in die Quere kommt.
Ich empfinde Hass, wenn jemand sich mir gleichwertig fühlt und besonders, wenn ich mich unter die Menge mische und einen normalen Menschen spiele, empfinde ich ihn, wenn jemand mir nicht den Raum gibt, der mir zusteht. Mich anrempelt zum Beispiel oder mir nicht zuhört. Ich habe deswegen schon getötet.

Aber Mitgefühl, Freundschaft und dergleichen? Pah ... so überflüssig. Ich bin froh, dass ich so etwas nicht in mir trage.
Aber ich kann es hervorragend spielen.
So überzeugend kann ich solche Gefühle, solche Handlungen des sozialen Miteinanders der Menschen spielen, dass man mir aus der Hand frisst, wenn ich es will.
Und genau das hatte ich vor.

Sherlock Holmes, so wusste ich (ich hatte meine Quellen ...) war, ähnlich wie ich, kein einfacher Mensch. Doch im Gegensatz zu mir hatte er nie gelernt, soziale Kompetenzen, die er nicht besaß, vorzuspielen. Er war rücksichtslos, egoistisch und nervtötend.
Ich brauchte also einen Charakter, der ganz das Gegenteil war. Geduldig bis zum Gehtnichtmehr, sodass man es ihm abnahm, dass er Sherlock ertragen konnte.
Andererseits aber auch nicht langweilig, sondern mit einem Hang zum Abenteuer, zur Gefahr, denn ähnlich wie bei mir war auch Sherlocks größtes Problem die Langeweile.

Mein Charakter musste aber auch bis zu einem gewissen Grad eine gebrochene Seele sein und ich musste ihn mit einem Trauma ausstatten.
Das war zum einen nötig, da es selbst für ein Genie wie mich nicht einfach ist, in jeder einzelnen Sekunde des Lebens eine völlig andere Person dazustellen. Hinzu kommt, dass ich manchmal, nun ja, gewissen Aussetzer habe ... ( ja, wenn Leute dumm sind beispielsweise, und mich dann auch noch abschätzig behandeln, das macht mich aggressiv. Ich meine, wie können solche Leute es auch wagen!)
Und diese Dinge würde ich auf das Trauma schieben können. Gut.
Weiter im Text.

Mein erfundener Charakter sollte keine Insel sein. Wenn man so etwas auf die Beine stellt, sollte man sich eine gute Hintergrundgeschichte und auch einige wenige, soziale Kontakte schaffen. Das macht die ganze Sache glaubwürdiger.
Ich entschied mich für einen Bruder, mit dem ich wenig Kontakt haben würde. Es sollte ja keine Familienidylle werden, sondern einfach meinen Charakter durch seine bloße Existenz verfestigen. Ich beschloss, ihn als Alkoholiker anzulegen, denn das würde erklären, warum ich nichts mit ihm zu tun haben wolle. Die Dokumente und Registereinträge, die seine Existenz offiziell belegten, sollte jemand danach forschen, würde ich herrichten lassen. Für meine Kontakte ein Kinderspiel.
Einen alten Freund. Das wäre auch noch sinnvoll. Vielleicht keinen richtigen guten Freund, eher eine alte, lockere Bekanntschaft.
Gut.

Nun kam ich zur Frage, wer oder was mein Charakter tatsächlich sein solle.
Das Trauma, dass er benötigte, könnte von einem Kriegseinsatz oder schwerem Unfall herrühren, vielleicht beides in Kombination bei einem Auslandseinsatz. Das würde es schlüssig erklären und hier wäre es ein Leichtes, die entsprechenden Unterlagen zu manipulieren, die belegen würden, dass er zu der und der Zeit bei dem und dem Corps gewesen sei.

Ich wollte, dass Sherlock mich mit zu seine Tatorten nahm und bei seinen Ermittlungen auf Tuchfühlung sein. Also wäre es praktisch, als Arzt zu fungieren, denn Personen mit einem polizeilichen Hintergund würde er misstrauen.
Man kann keinen Arzt faken, das ist mir schon klar. Musste ich aber auch nicht, ich habe ein abgeschlossenes Medizinstudium, neben einem weiteren in Chemie. Hab ich in jungen Jahren aus Langeweile gemacht, und weil ich dachte, dass es bei meiner Berufswahl sicher nicht schaden konnte, medizinische Kenntnisse zu besitzen.
Ich finde es zum Beispiel äußerst amüsant, jeden der Knochen, den einer meiner Schergen einem Gefangenen bricht, genau benennen zu können. Das gibt Verhören eine zusätzliche Würze...
Gut.

Also ein Militärarzt, zurückgekehrt von einem Auslandseinsatz, wegen einer Verletzung (die habe ich tatsächlich und derjenige, der mir die Schulter durchschossen hat, hat nicht lange genug gelebt, um meinen Schmerzensschrei noch zu hören), mit einem Trauma, mit einem alkoholkranken Bruder, mit bereits verstorbenen Eltern, mit einem alten Freund in Sherlocks Umfeld.
Mit einem herzlichen, geduldigen Gemüt und doch einem Hang zum Abenteuer.
Und mit meinem Vornamen, denn den wollte ich behalten.
Meinem richtigen Vornamen und einem Allerwelts- Nachnamen.
So entstand John Watson.

Das Janus ProjektWhere stories live. Discover now