Einundsiebzig

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"Er hat Lungenkrebs im Endstadium", informiert Dylan den Arzt. Wir stehen vor der Tür eines Krankenzimmers, in dem Avery einquartiert wurde. Er liegt friedlich in einem Krankenbett, während Dylan und ich mit dem Arzt reden, wobei eigentlich nur Dylan und der Arzt reden und ich still und tränenüberströmt daneben stehe.

Nachdem wir ins Krankenhaus gestürmt sind, wurde Avery sediert und mit einer speziellen Atemmaske versorgt. Nun liegt er da und atmet mithilfe dieser Maske gleichmäßig, während er schläft.

"Der Lungenkrebs hat schon Metastasen gebildet", berichtet Dylan "Dr. Horatio im MD Anderson Cancer Center hat Avery's Akte und kennt den kompletten Krankheitsverlauf."

Der Arzt, auf dessen Namenschild Dr. Harris steht, nickt und verabschiedet sich mit folgenden Worten. "Ich werde seine Akte herschicken lassen und mich über den Krebs Ihres Bruder bis auf's letzte Detail informieren." Und dann verschwindet er ohne auf eine Antwort zu warten, aus der Tür.

Ich sehe Dylan mit einem, von Tränen verschleierten, Blick an und frage schluchzend "E-Endstadium?" Er nickt traurig und nimmt mich in den Arm, als ich wieder zu Heulen anfange.

Nachdem ich mich einigermaßen wieder beruhigt habe, gehen Dylan und ich in ein nahe gelegenes Wartezimmer, da der Arzt meinte, dass Avery nicht innerhalb der nächsten zwei Stunden aufwachen wird.

Dort erzählt mir Dylan alles über seine und Avery's Vergangenheit. Darunter auch, dass Avery der "schwächere" Zwilling von beiden ist. Dass er Lungenkrebs schon als Kind hatte, dieser aber erstaunlicherweise, wie durch ein Wunder, von alleine zurückgegangen ist, als er vierzehn Jahre alt war. Deswegen hat Avery auch nie Alkohol getrunken, um das Risiko, dass der Krebs zurückkommen könnte, nicht zu erhöhen. Trotzdem ist er wiedergekommen, habe ich gedacht, als er es mir erzählt hat.

"Kann es nicht raus operiert werden?", frage ich ihn, nachdem er mir alles über deren Vergangenheit erzählt hat.

Dylan schüttelt den Kopf "Dr. Horatio meinte, dass eine OP nichts bringen würde."

"Was ist mit einer Chemo?", hacke ich nach.

"Avery will keine." Geschockt reiße ich die Augen auf.

"Er will keine?", frage ich perplex. Wieder schüttelt er den Kopf.

"Er sagt, dass er es nicht hinauszögern will", erklärt Dylan, was ich aber überhaupt nicht nachvollziehen kann.

"Nicht hinauszögern...", murmle ich atemlos. Dylan greift mit beiden Händen meine Oberarme und sieht mir tief in die Augen.

"Joy, er wollte wegen dir zurück, obwohl Dr. Horatio es ausdrücklich untersagt hat", ein trauriges Lächeln bedeckt seine Lippen. "Avery ist wegen dir gekommen, weil er dich liebt, Joy."

Ich reiße mich aus seinem Griff und seinem intensivem Blick und stehe von der Couch im kleinen und leeren Wartezimmer auf.

"Hast du's ihm gesagt?", bricht er die Stille im Raum.

Langsam drehe ich mich wieder zu ihm und schaue ihn schuldbewusst an, während ich leicht den Kopf schüttle "Nein."

Dylan steht ebenfalls auf und kommt auf mich zu. Bei mir angekommen legt er sanft seine Hand auf meinen Bauch und lächelt "Er wird überglücklich sein."

Ich nehme seine Hand von meinem Bauch. "Nur wird er nicht die Geburt seines Kindes erleben, wenn er keine Chemo macht", zische ich aufgebracht. Ich verstehe nicht weshalb er eine Chemotherapie verweigert, wenn diese ihm Zeit geben kann.

"Wie lange?"

"Wie lange was?", kommt seine Gegenfrage.

"Wie lange würde ihm die Chemotherapie geben?"

"Zwei bis drei Jahre."

Erstaunt schaue ich ihn an "Zwei bis drei Jahre?" Dylan nickt.

"Und er will keine Chemo?", frage ich sichtlich verärgert und verwirrt.

"Joy, das wären zwei-drei Jahre voller Quallen und Schmerz. Das will er nicht. Er will in Würde sterben und nicht als willenloser Mann, der nicht einmal alleine Essen kann."

Ich beiße mir nachdenklich auf die Unterlippe, während ich ihn mustere.

"Und er will das auch nicht für dich und bestimmt nicht für euer Kind, von dem du ihm echt mal bald erzählen solltest, damit er sich wenigstens über eine Sache freuen kann", wechselt er das Thema und lächelt mich sanft an.

Ich atme tief durch. Er will keine Chemo aus gewissen Gründen, das akzeptiere ich. Aber was ich nicht akzeptiere, ist das er nicht kämpft. Er verlässt mich. Er lässt mich einfach allein.

"Komm. Lass uns nachschauen, ob er aufgewacht ist", meint Dylan nachdem er auf die Uhr seines Smartphones geschaut hat.

JoyWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu