Zweiundsechzig

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Die Tränen in meinen Augen verschleiern meine Sicht, doch ich kann genau erkennen wer vor mir steht.

Wie in Trance gehe ich mit zitternden Knien auf die Person zu und lege sanft meine schlotternden Finger auf seine blasse Wange. Er legt seine Hand über meine und schmiegt sein Gesicht in meine Hand, während er mich mit seinen müden und glasigen Augen traurig ansieht.

Ich fahre mit den Fingern meiner anderen Hand in seine dunklen, nicht mehr ganz so dichten, Haare.

Seine Haare sind die gleichen.

Mit dem Daumen fahre ich seine beinahe schon blauen Lippen entlang.

Seine Lippen sind die gleichen.

"Joy..." Er ist heiser und es hört sich so hoffnungsvoll und zugleich todtraurig an. Ich entferne meinen Daumen von seinen klappernden Lippen und etwas entgeht mir nicht.

Auch seine Stimme ist die gleiche.

"Joy", höre ich eine weitere Stimme meinen Namen rufen und meine Trance ist sofort gelöst.

Mit aufgerissenen Augen entferne ich mich von ihm und starre in sein elend und krank aussehendes Gesicht.

Es ist Dylan.

Ich drehe mich zu der dritten Person im Raum um, deren Anwesenheit ich hinter mir spüre.

Da ist auch Dylan.

Völlig verstört vom Anblick der zwei Dylans vor mir, schaue ich abwechselnd hin und her.

Dylan dann Dylan. Dylan dann Dylan. Dylan dann Dylan.

Die Tränen fließen lautlos auf meine Wangen und treffen genauso lautlos auf den Boden, während ich die beiden verwirrt betrachte.

Immer wieder schaue ich nach links und nach rechts. Zwei Dylans, ein normal und gesund Aussehender, wie ich ihn nun mal kenne und ein krank Aussehender.

Und plötzlich macht eine Glühbirne in meinen Hirn Tick und es leuchtet mir ein.

Zwillinge.

Die gleichen silbernen Augen, das gleiche Haar, die genau gleichen Gesichtszüge. Alles ist exakt gleich.

Es sind verdammte einige Zwillinge.

Aber wer von ihnen ist Dylan? Mit wem von beiden habe ich mich unterhalten? Mit welchem habe ich mich gestritten? Welchen habe ich voller Leidenschaft geküsst? Und die Frage, dessen Antwort mir am meisten Angst macht, ist, mit welchem Dylan von beiden habe ich geschlafen? Wessen Kind trage ich in mir?

"Joy-", wispert der krank aussehende Dylan, doch ich lasse ihn nicht weitersprechen, denn ich hebe meine Hand in seine Richtung und schüttle ohne ein Wort den Kopf. Sofort verstummt er und beendet nicht seinen Satz, was ich auch damit bewirken wollte.

Ich muss hier raus. Ich muss hier auf der Stelle und sofort raus!

Mit schnellen Schritten gehe ich an den gesund aussehenden Dylan vorbei, ohne ihm auch nur eines Blickes zu würdigen und stürme auf die Tür zu.

Hinter mir höre ich, wie sie mir folgen und fange an zu rennen. Ich will ihn nicht sehen, keinen von beiden.

Aus seinem Apartment raus, überlege ich kurz, ob ich in meins gehen soll, verwerfe diesen Gedanken aber wieder sofort und laufe Richtung Aufzug.

Dort angekommen drücke ich wiederholt den Knopf, doch auch nach fünf Sekunden kommt der Aufzug nicht.

Kurzerhand entscheide ich mich die Treppen, die ich in diesem Gebäude noch nie hoch oder runtergestiegen bin, zu nehmen und öffne die schwere Tür zum Treppenhaus.

Hinter mir im Flur höre ich ein tiefes und lautes Husten. Das selbe Husten, dass ich auch schon vor knapp vier Wochen gehört habe.

Die ersten Stufen erreicht, höre ich ihn etwas rufen, bleibe aber nicht stehen.

"ER LIEBT DICH!", schreit nun die Stimme und ich bleibe abrupt stehen. Ruckartig drehe ich mich um und er bleibt genau vor mir stehen.

Diese silbernen Augen und diese vollen köstlichen Lippen... Das ganze Geschöpf, das ich vergöttert habe, ist nur noch reiner Abschaum in meinen Augen.

"Er liebt dich", wiederholt er sanft. Ich reiße die Augen auf und starre ihn an.

"Er liebt mich?", frage ich ungläubig.

"Wer liebt mich? Wer ist er? Und wer bist du? Heißt einer von euch überhaupt Dylan oder war das auch gelogen?" Die Fragen sprudeln nur so aus mir raus, genauso wie die Wut, von der sie unterstrichen werden.

Er blinzelt ein paar mal überfordert , antwortet dann aber stirnrunzelnd.

"Ich heiße Dylan und er heißt Avery. Und Avery liebt dich wahrhaftig." Avery... Der Bruder Avery. Na wenigstens war das keine Lüge.

"Ach er liebt mich also?", frage ich zweifelnd. "Lügt man jemanden den man wahrhaftig liebt sechs Monate ins Gesicht, verschwindet dann für fast einen Monat und dass ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?"

Schuldbewusst schweigt er und starrt mich an.

"Sechs Monate! Dylan oder Avery oder wie auch immer du heißen magst!"

Immer noch schaut er mich reumütig an und das einst von mir geliebte Gesicht ist nur noch abscheulich in meinen Augen.

Ich drehe mich weg und sehe noch wie er ein Stück hinter taumelt, bevor ich die übrigen Treppen runterlaufe und dann die Tür des Treppenhauses öffne.

Mit hastigen Schritten laufe ich durch's Foyer nach draußen.

A/N:
Nach diesem Kapitel kommen vier Kapitel aus Dylan's Sicht ^^

JoyDonde viven las historias. Descúbrelo ahora