Der Beginn einer Expedition, und eine Burg auf dem Wasser

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Auf der Suche nach einer Bleibe betritt Leonie einen Korridor und erblickt den Torso eines Menschen, der auf dem Boden liegt. Ihr Herz bleibt kurz stehen, bis sie realisiert, dass es sich lediglich um eine umgefallene Ritterrüstung handelt. 

"Hey, schaut euch das an", ruft sie.

Als Silvan die Rüstung sieht lacht er. Er versucht sie anzuziehen, aber sie ist im viel zu klein und die alten Lederbändel, welche das Metall zusammehalten, sind spröde und brechen bei der geringsten Bewegung.

Jenna und Leonie lachen.

Es ist gut, nicht alleine zu sein.


In einem Flügel der Burg finden sie Zimmer mit intakten Fensterscheiben, die einen wunderbaren Blick auf den See im Abendrot bieten. Seine Wellen funkeln orange, und am gegenüberliegenden Ufer leuchten die noch schneebedeckten Flanken der Berge. 

In einem der Räume befindet sich ein grosser Kamin. Sie beschliessen, die Nacht hier zu verbringen.

Leonie fährt mit der Hand über den rauen, gesprungenen Verputz der alten Wände und fragt sich, welche Geister hier wohl noch wohnen.


Ihren Schlafsack rollt Leonie im Zimmer mit dem Kamin aus, während Silvan und Jenna ihr Quartier in einem angrenzenden Raum aufschlagen. Ja, die können sich gegenseitig warm halten, denkt Leonie, während sie sich an die Glut des Feuers ankuscheln muss.

So läuft's.

Leonie hat im Kamin ein Feuer entfacht. Sie verbrennt einige Holzreste von nicht identifizierbaren Möbelstücken. Jahrhunderte alte Möbelstücke, denkt Leonie. Früher wären solche Antiquitäten unbezahlbar gewesen, deren Verbrennung eine unverzeihliche Sünde. Aber heute ist ja alles alt, und die Gilde der Historiker und Archäologen ist ausgestorben. Sie zuckt mit den Schultern und legt ein geschnörkeltes Tischbein in die Flammen. Wahrscheinlich ist es das letzte seiner Art.

Silvan und Jenna sitzen neben ihr und zusammen essen sie Vorräte, welche sie von zuhause mitgebracht haben. Sie nagt an etwas Hartem, welches Rosie als Brot bezeichnet.

"Morgen können wir vielleicht noch ein bis zwei Kilometer mit dem Boot fahren, dann müssen wir zu Fuss weiter." Silvan ist – ganz in seiner Rolle als fürsorgliches Männchen – vor Sonnenuntergang noch auf einen der Türme gestiegen und hat ihren weiteren Weg ausgekundschaftet.

"Hast du irgendetwas gesehen", fragt Leonie, obwohl sie weiss, dass Silvan allfällig interessante Beobachtungen schon längst berichtet hätte.

Silvan schüttelt den Kopf. "Nein, aber die Sicht war nicht sonderlich gut."

"Ich hab eine Überraschung für euch", schaltet sich Jenna ein und wühlt in ihrem Rucksack. Sie zieht eine kleine Flasche hervor. "Gebt eure Tassen her. Klaus hat mir etwas mitgegeben."

"Teufelswasser!" ruft Silvan. Das ist Klaus' neuste Erfindung. Klaus hat eine Destillieranlage in Betrieb genommen und darin irgend eine unheilige fermentierte Brühe verarbeitet. Leonie will gar nicht wissen, was das war. Jedenfalls kam am anderen Ende des Geräts eine glasklare, entflammbare Flüssigkeit raus, die jedem anständigen Menschen das Wasser in die Augen treibt.

Jenna giesst in jede der Tassen etwas Teufelswasser. Leonie trinkt vorsichtig und fühlt, wie das üble Zeugs sich seinen Weg in ihren Magen brennt. Nach einigen Schlucken entspannt sie sich.


Später seht Leonie neben dem Kamin, die beiden anderen schauen ihr zu. Sie ist erstaunt, dass sie noch stehen kann.

"Hört zu!" sagt sie. Dann beginnt sie zu singen.

Well, I've got thick skin and an elastic heart,
But your blade—it might be too sharp
I'm like a rubber band until you pull too hard,
Yeah, I may snap and I move fast
But you won't see me fall apart
'Cause I've got an elastic heart
I've got an elastic heart

I've got an elastic heart

Sie ist erstaunt, dass sie den Text dieses Lieds noch kennt, ein Lied, das vor Jahrhunderten das letzte Mal gesungen wurde. Aber Alkohol hilft in solchen Dingen – manchmal.

Silvan und Jenna blicken sie mit offenen Mündern an. Dann brechen sie in Applaus aus.

"Besser als das Original", sagt Silvan und lacht. Jenna stimmt ein.

Erschöpft setzt sich Leonie wieder hin und nimmt noch einen Schluck Teufelswasser.

"Oh Mann, bin ich müde", sagt Jenna und legt ihren Kopf an die Silvans Schulter.

"OK, gehen wir schlafen", antwortet Silvan und streicht mit der Hand durch ihr Elfenhaar. Etwas unsicher erhebt er sich und hilft Jenna hoch. Sein Blick fixiert Leonie, während er nach Gleichgewicht sucht. "Oh edle Leonie. Ihr seid der beste Barde an unserem Hof. Oder ... Bardin? Troubadeuse? Jedenfalls ...seid gedankt. Wir Hoheiten ziehen uns jetzt in unser ... Schlafgemach zurück. Ihr seid für heute Abend entlassen ... bis morgen. Dann dürft ihr ... unser Frühstück servieren."

Er dreht sich um, etwas zu schnell, und Jenna kann knapp verhindern, dass er das Gleichgewicht verliert und auf den Boden klatscht. Er torkelt aus dem Raum, während sie zögert zurückblickt.

"Jenna ... kommst du?", lallt er von nebenan.

Jennas Augen sind auf Leonie gerichtet. Sie öffnet ihren Mund.

Leonie rülpst und starrt sie in betrunkener Trägheit an.

"Jenna?" Das Wort tönt wie der klagende Schrei eines Welpen, der nach seiner Mutter ruft.

Jenna schliessst ihren Mund, drückt die Lippen zusammen und hebt die Augenbrauen. Dann winkt sie kurz mit der Hand und verlässt das Zimmer.  

Der Alkohol tanzt wie ein Dschinn auf Leonies Synapsen. Die Abschiedsworte von Silvan hallen in ihrem Kopf nach. Ihr seid für heute Abend entlassen ... bis morgen. Dann dürft ihr ... unser Frühstück servieren. Sie dringen nur nach und nach in die noch funktionierenden Teile ihres Hirns vor. Aber dort beginnen sie sich im Kreise zu drehen, bis Leonie ihre Dunkelheit erkennt, und dann legen sie sich als finsterer Schleier über ihr Gemüt.


Die Sonne geht gerade auf, als Leonie die Burg verlässt. Die Nacht war kurz. Geschlafen hat sie kaum. Ihr Kopf fühlt sich an, als ob jemand mit jedem Herzschlag einen Hammer dagegen knallt.

Bevor sie gegangen ist, hat sie noch einen Blick ins Schlafgemach der Hoheiten geworfen. Silvan hat geschnarcht, von Jenna war nur ein Haarbüschel sichtbar.

Sie lädt einen Drittel der Vorräte und ihren Rucksack in das Boot, dann bindet sie es los und setzt sich rein. Schnell hat sie das Wasser überquert und befestigt das Boot, von der Burg aus gut sichtbar, an einem Baum am Ufer. Silvan wird ein Bad imSee sicher gut tun. Sie sieht sich um, dann marschiert sie die Böschung hoch.

Die Hoheiten werden sich ihr Frühstück selbst machen müssen.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now