Ein grausiger Fund, und ein heranziehender Abend

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„Krass", meint Rosie eine Minute später, draussen, in der Sonne stehend. Sie hat sich offenbar etwas beruhigt.

„Sollen wir ihn mitnehmen?", fragt Klaus. „Den Schädel, meine ich."

„Auf keinen Fall!", sagt Jenna, sofort. „Wenn wir jemanden sehen, sagen wir einfach, was wir gefunden haben. Soll die Polizei sich drum kümmern."

Leonie sehnt sich nach einem Themenwechsel. „Habt ihr etwas rausgefunden?" Ihr Blick ist auf Silvan und Klaus gerichtet.

Silvan blickt nochmals zum Gebäude und zögert. Dann nickt er. "Ja ... Wir sind wirklich noch dort, wo wir vorhin waren. Seht ihr dort hinten die Anhöhe?" Mit einer ausladenden Geste weist er in eine Richtung, in welcher Leonie nur ein paar Bäume sieht, aber vermutlich hat sich Silvan von der nassen Wiese aus mehr sehen können. "Von dort sind wir hergekommen, mit der Abkürzung."

Jenna schnaubt beim Wort Abkürzung.

"Und wir sollten jetzt ..." Silvan dreht sich in die entgegensetzte Richtung und weist in den Wald, "... in diese Richtung gehen. Dort müsste der Informationspavillon stehen. Dort finden wir vielleicht auch den Rest unserer Klasse."

„Glaubst du, dass sie dort sind?" Rosies Stimme ist dünn.

„Wenn wir hier bleiben, werden wir das nicht erfahren." Silvan grinst. „Also gehen wir?" Er zeigt nochmals dorthin, wo er den Pavillon vermutet.

„Ja, lasst uns gehen." Leonie nickt. Sie ist begierig diesen Ort zu verlassen. Sie bemerkt, dass sie am ganzen Körper schwitzt, und zieht ihre immer noch nasse Regenjacke aus. Sie geht zu ihrem Rucksack und bindet sie daran fest, dann schultert ihr Gepäck. Ihr feuchtes T-Shirt wird an ihren Rücken gedrückt.

Die anderen blicken sie einen Moment lang erstaunt an, ihre Gedanken offenbar immer noch beim Fund im Gebäude.

„Gehen wir", sagt Silvan.

Auch Rosie zieht ihre Jacke aus. Darunter trägt sie ein schreiend gelbes T-shirt, auf dessen Vorderseite ein in Neonfarben gehaltener Totenkopf mit wildem Blick in die Gegend starrt.

„Also echt!" Jenna mustert das Kleidungsstück mit Abscheu.

„Sorry, konnte ich nicht ahnen." Rosie zuckt mit den Schultern und wendet sich ihrem Gepäck zu.

Jenny hat ihren Mantel bereits sauber zusammengelegt und am Rucksack befestigt. Ihre weisse Bluse strahlt im Sonnenlicht.

Auch die Jungs nehmen ihr Gepäck auf. Klaus stöhnt und stolpert unter dem Gewicht, und er verliert beinahe seine grosse Brille, bevor er sich stabilisieren kann. Silvan trägt seine Last, wie üblich, mit scheinbarer Leichtigkeit. Er führt die Gruppe in den Wald.


Der Wald ist dicht. Die Bäume sehen alt aus. Ein paar Exemplare hat es offenbar schon vor Jahren umgelegt, so dass sie jetzt in verschiedenen Zuständen des Verfalls auf dem Waldboden liegen und den Wanderern das Durchkommen erschweren.

In der Luft hängt der Geruch von frischem Pflanzen und vermoderndem Holz.

Leonie, die an alles zu denken versucht, nur nicht an ihren Fund von vorhin, erinnert sich an ihren Geographieunterricht. "Hier sieht es aus wie in einem Urwald."

"Ich denke, das ist ein Urwald", nimmt Klaus den Gedanken auf. "Man sieht keinerlei Zeichen eines menschlichen Eingriffs."

"Und inwiefern hilft uns das?" Rosies Stimme tönt irritiert, was Leonie nachvollziehen kann.


Kurz später erreichen sie eine weitere Lichtung.

Inmitten von Gebüsch und Gras steht eine Gruppe von zerfallenen Gebäuden. Rostige Metallträger ragen in den Himmel, zwei oder drei Stockwerke hoch. Grosse Platten aus einem grauen Material, welche am Boden liegen oder schräg aneinander lehnen, sind alles, was von den Wänden und Decken übrig ist.

"Das sieht aber nicht aus wie der Informationspavillon", sagt Silvan.

Leonie erinnert sich an den Pavillon, der von weitem wie eine Holzkugel ausgehen hat, und stimmt ihm zu. "Der war auch aus Holz, der ist schon lange verrottet."

Die anderen schauen sie erstaunt an.

"Seht ihr denn nicht?" fragt sie. "Seit heute Morgen sind hier ... viele Jahre vergangen. Alles ist alt, verrottet, überwachsen."

Klaus nickt. "Ich denke, du hast recht, Leonie. Das erklärt den Wald, die zerfallenen Häuser, das Wetter, die Jahreszeit und auch die Tageszeit."

"Die Tageszeit?" fragt Rosie. "Was hat das jetzt mit der Tageszeit zu tun. Willst du mich verarschen?"

Klaus hebt abwehrend die Hände. "Nein. Aber siehst du die Sonne?" Er weist auf die Sonne über dem Horizont. "Sie wird bald untergehen." In der Tat sind die Schatten schon recht lang geworden. "Jetzt schau deine rosa Uhr an!"

"Es ist Halbzwei", antwortet Rosie und beisst sich auf die Unterlippe.

Richtig, denkt Leonie, nicht einmal die Tageszeit stimmt. Wir haben das Mittagessen verpasst, realisiert sie.

Silvan stellt sich auf die Lichtung und legt die Hände an den Mund. "Hallo!" Sein Ruf wird vom Wald verschluckt. Ein paar Vögel fliegen hoch, aufgeschreckt zeternd. Dann ist alles wieder still.

Rosie blickt sich um, macht einen Schritt auf die Gebäude zu und bleibt stehen. "Glaubt ihr, dass die anderen irgendwo hier sind?" 

Klaus schüttelt den Kopf. "Hast du den nassen Grasfleck gesehen, der uns hierher getragen hat?" 

Rosie nickt. 

"Der war etwa 20 Meter im Durchmesser. Das, was auf ihm stand, ist mit uns in diese ... Zeit ... gekommen. Alles andere ..." Klaus zuckt mit den Schultern.

"Und diese Zeit ... wann ist sie? Wie viele Jahre?" Die Frage kommt von Jenna. 

Klaus wirkt ratlos. "Ich bin so schlau wie ihr. Wie Leonie gesagt hat... alles ist verrottet, verwittert. Es sind neue Bäume gewachsen, und einige davon sind auch schon wieder umgekippt. ... viele Jahrzehnte? ... Jahrhunderte?"

Leonie braucht einen Moment, um sich das konkret vorzustellen. "Das würde heissen... dass alle, die wir kennen, inzwischen tot oder zumindest alt und grau sind?"

Klaus zögert, dann nickt er.

Leonie zieht ihren Rucksack aus und setzt sich auf einen umgefallenen Baumstamm.  

Silvan marschiert kreuz und quer durch das Gras der Lichtung und schaut mal hier und mal dort hin. Wie ein Tier im Käfig, denkt sich Leonie. Dann blickt sie zu Jenna, deren Hände mit den Bändeln des Rucksacks spielen und deren Augen Silvan verfolgen.

Rosies Augen sind weit aufgerissen und Tränen fliessen unbemerkt über ihre Wangen. Sie ist die einzige, denkt sich Leonie, welche es aufgegeben hat, cool zu sein.

Leonie erhebt sich, geht zu Rosie und legt ihren Arm um ihre Schultern.

Rosie blickt sie an. "Das kann nicht sein. Sag mir, dass das nicht sein kann."

Leonie presst die Lippen zusammen und hebt die Augenbrauen. 

Die fette, schwarze Katze aus ungutem Gefühl in ihrem Hinterkopf wird von einem bösartigen Panther aus Panik bedrängt. Aber als Silvan in ihre Richtung blickt, schafft sie es, ihn anzulächeln.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now