Kapitel 77

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Mit meiner Vermutung behielt ich recht. Während ihres Aufenthalts stellte Brinja unser Leben auf den Kopf. Jeden Tag wurden wir auf die ein oder andere Weise von ihr überrascht. An einem Wochenende entführte sie nicht nur ihren Urenkel und Enkel, sondern auch Suvinna, Sven und mich auf die Vogelinsel Bleiksøya.

Genau wie meine Großeltern damals. Wir verbrachten zwei Tage, die zahlreichen Vogelarten zu bestaunen und eine Menge Erinnerungsfotos zu schießen. Ich fühlte mich in die Vergangenheit zurückversetzt, aber anstatt traurig zu sein, war ich wie ein hüpfender Gummiball, der es kaum erwarten konnte, weiterzugehen.

Selbst Brinja blühte in der Zeit noch mehr auf. Auf ihren Lippen lag ein ununterbrochenes Lächeln und ihre Erzählweise war so spannend, dass wir pausenlos an ihnen hingen und mehr wissen wollten. Dank ihres Alters konnte sie uns einige Unterschiede zu früher berichten.

Das war jedoch nicht alles. Unter der Woche zog Brinja durch Andenes, besuchte alte Freunde und bat mich, mit ihr auf den Friedhof zu fahren. Allein.

Überrascht davon stiegen wir eines Nachmittags ins Auto und ich fuhr den kurzen Weg zum Bleik Kirkegård. In ihrer Hand hielt Brinja eine Plastiktüte, die sie wie einen Schatz hütete.

„Hast du etwa vor, mich dort zu vergraben?", scherzte ich, aber ich wusste nicht genau, was ich davon halten sollte.

„Das wäre tagsüber zu auffällig", erwiderte Brinja trocken.

Ihr manchmal schwarzer Humor war erfrischend und unterhaltsam. Jetzt allerdings machte er mich neugierig. Eventuell wollte Brinja einige Gräber ihrer Freunde besuchen und ihnen auf ihre Weise zeigen, dass sie nie in Vergessenheit geraten würden. Ich hatte für meine Verstorbenen einen Blumenstrauß und Friedhofskerzen gekauft.

„Weißt du eigentlich schon, wofür sich Adrian entscheiden wird?", lenkte ich das Thema auf die Sache, die mich seit Monaten beschäftigte. „Er äußert sich dazu nicht."

„Ich werde seinen Anteil bis zu meinem Tod weiter aufnehmen, wenn er ihn aufgibt."

Schwer schluckend verfestigte ich meinen Griff um das Lenkrad. Ihre Antwort war nicht das, worauf ich gehofft hatte. Es klang, als hätte er bereits entschieden und Brinja darin eingeweiht. Uns wollte er scheinbar die Enttäuschung bis zum Ende hin ersparen.

Brinja schien meine Stimmung zu bemerken. Sie legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel und drückte ihn leicht. „Lass es auf dich zukommen, Freyja. Du bist ihm unheimlich wichtig, egal wofür er sich entscheidet. Mache seine Entscheidung nicht davon abhängig, wie viel du und eure Beziehung ihm bedeutet."

Das war lieb von ihr, aber es ging mir nicht ums Geld, sondern um Adrian und Nic. Würde ich selbstsüchtig klingen, wenn ich beide darum bat hierzubleiben, auch wenn sie lieber zurück nach Amerika gingen? Ich wollte nicht wie ein Klammeraffe wirken, der sich nicht trennen konnte, aber manchmal verspürte ich das Gefühl, dass sie ihre Heimat vermissten.

„Ich versuche es", flüsterte ich und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Dabei wollte ich endlich Klarheit über die Zukunft haben und mich auf einen Abschied vorbereiten können!

Kurz danach fuhr ich auf den Friedhofsparkplatz und half Brinja beim Aussteigen. Mit ihrer Tüte in der Hand schlenderten wir die Wege entlang und ich wartete darauf, endlich zu erfahren, warum sie hierherkommen wollte.

„Woher kennst du einige Bewohner von Andenes, wenn du in Oslo gelebt hast?", erkundigte ich mich. Ich genoss den Spaziergang bei Sonnenschein und lauschte dem Wind, der die salzige Meeresluft mit sich brachte. Gleichzeitig bemerkte ich ein bedrückendes Gefühl in meinem Magen, je näher wir dem Grab meiner Eltern und Erik kamen.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now