Kapitel 75

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Zwei Tage später standen wir vor dem Gebäude des Midtre Hålogaland Tingrett. Neben zahlreichen Fällen bezüglich See- und Grundstücksrechte wurden hier auch Kriminalität und sonstiges bearbeitet.

Mit gemischten Gefühlen und einem Grummeln im Magen sah ich die Glasfassade entlang, welche die Morgendämmerung leicht widerspiegelte. Dahinter waren in den meisten Räumen die Lichter an.

„Bist du bereit?", fragte Sven und griff nach meiner Hand.

Tief atmete ich ein und ließ zu, dass die Kälte mich von innen erfrischte. „So bereit wie nie zuvor", antwortete ich kämpferisch und gab Adrian einen liebevollen Kuss. „Bis nachher, Kjæreste. Jeg elsker deg."

„Jeg elsker deg også, Freyja. Ihr schafft das", feuerte uns Adrian an. Er würde einen kleinen Spaziergang in der Umgebung machen, bis er als Zeuge dran war. Viel konnte er nicht beisteuern, außer dass er Merrit an Svens Geburtstag im Hotel begegnet war, als er einen Lichtschalter repariert hatte.

Ansonsten waren Sven und ich mit unserem Anwalt allein.

Ein letztes Lächeln, bevor sich unsere Wege trennten und ich mit Sven in das Gebäude ging. Es war ruhig, aber hinter einer Tür hörten wir ein dunkles Lachen. Hinter einem Glasschalter saß ein Herr, dessen Haare aschgrau waren. Seine Gesichtszüge waren grimmig, aber sobald wir ihn ansprachen, wurden sie weicher. Er beschrieb uns den Weg zum Gerichtssaal, der im ersten Stock lag.

Als wir die Treppe hinaufgingen, wurden meine Schritte automatisch langsamer und meine Beine verwandelten sich in Wackelpudding. Ausgerechnet jetzt war ich total nervös!

„Freyja?", fragte Sven besorgt.

Schwer schluckend überwand ich die letzten Treppenstufen und presste meine Lippen fest zusammen. In Kürze würden wir Merrit und Kristina gegenübersitzen und uns ihre abscheulichen Taten anhören müssen. Einerseits hoffte ich, dass sie nichts sagten, andererseits wollte ich die Wahrheit wissen.

Vor der Tür zum Gerichtssaal stand unser Anwalt, mit dem wir regen Kontakt via E-Mail und Telefon gehalten hatten.

Elvar Nygård war ein Bekannter von Svens und Eriks Eltern, der früher in Andenes gelebt hatte, bis ihn die Arbeit nach Narvik gezogen hatte. Sein jung aussehendes Profil passte zu der freundlichen Stimme am Telefon. Bei unserer Begrüßung betrachtete ich ihn genauer und suchte in meinen Erinnerungen nach Situationen zu graben, in denen wir uns begegnet waren. Leider fielen mir nur ein paar flüchtige ein.

In gemäßigter Lautstärke unterhielten wir uns über Andenes, bevor wir in den Saal gelassen wurden. Der Raum wirkte im ersten Augenblick unheilverkündend und bedrückend, doch die sepiabraune Einrichtung hatte etwas Beruhigendes. Die faszinierende Mischung aus warmen Brauntönen hatte eine tiefe, erdige Nuance, mit der sie dem Raum eine natürliche und gemütliche Atmosphäre gab.

Auf einem erhöhten Podest stand ein langgezogenes Pult, an dem zwei Berufsrichter und fünf Laienrichter sitzen würden, die aus der Öffentlichkeit ausgewählt wurden. Früher hatte es eine zehnköpfige Jury gegeben.

Neben den Plätzen für den Kläger und den Angeklagten gab es einen Tisch in der Mitte für die Zeugenaussagen. Dort, wo normalerweise Zuschauerreihen waren, standen weitere Tische, die meiner Vermutung nach für Reporter gedacht waren. Diese blieben heute leer.

Wir setzten uns auf unsere Plätze und warteten auf den Beginn der Verhandlung. Alle paar Sekunden sah ich auf meine Armbanduhr und fluchte innerlich, da sich der große Zeiger so langsam wie eine Schnecke vorwärtsbewegte.

Plötzlich stupste mich Sven mit finsterem Gesicht an und mir sank das Herz buchstäblich in die Hose.

Zwischen Polizisten wurden Merrit und ihre Schwester in Handschellen vorgeführt, die ihnen auf der Anklagebank abgenommen wurden. Die Beamten ließen sich auf die freien Stühle hinter ihnen nieder. Ihr Anwalt setzte sich neben sie und sortierte seine Papiere.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now