Kapitel 9

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Anstatt das Auto zu nehmen, verließ ich am Morgen zeitig das Haus. Erstens wollte ich lieber spazieren gehen und zweitens wollte ich sehen, was für Schäden der Sturm hinterlassen hatte. Fleißig wie eh und je, waren die Aufräumarbeiten der Anwohner bereits im Gange. Heruntergeflogene Dachziegel wurden eingesammelt, abgeknickte oder umgestürzte Bäume mit einem Bagger entfernt. Gerade die Häuser an der Küste traf es bei solchen Stürmen häufiger und nicht selten mussten Fenster ausgetauscht werden, wenn das Bauwerk alt war und nicht über spezielle Sicherheitsgläser verfügte. Dem hatten Erik und ich vorgebeugt, sodass wir nicht nach jedem Sturm neue bestellen mussten.

Der frische Wind fegte über die Inselspitze und nahm heruntergerissene Plakate mit sich mit, die dann an die nächste Hauswand klatschten. Der Anblick von zerstörten Blumenbeeten betrübte mich, obwohl es nicht das erste Mal war, dass ich so etwas sah. Ich hatte bereits schlimmere Stürme erlebt und es würde auch nicht der letzte sein.

„Guten Morgen, Freyja", rief Birger mir mit der Zigarre im Mund zu. Er war mit einigen Männern dabei, Sandsäcke zu beseitigen. Wie immer steckte er in seiner abgewetzten Latzhose und ich schmunzelte. Schlief er etwa darin? Ich konnte mich nicht daran erinnern ihn – außer zur Beerdigung – jemals in etwas anderem gesehen zu haben. Dennoch schien sich niemand in Andenes daran zu stören. Birgers Sinn für trockenen Humor und seine manchmal ruppige Art hielt ihn nicht davon ab, der Erste zu sein, wenn Hilfe benötigt wurde. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war er einer der Fischer, die regelmäßig hinausfuhren. Schon früh hatte er sein Leben den Meerestieren gewidmet.

„Guten Morgen, Birger. Braucht ihr Hilfe?", erkundigte ich mich. Ein bisschen Zeit hatte ich und da wir Anwohner uns so gut wie immer gegenseitig unterstützten, ließ ich es mir nicht nehmen, auch ein paar Minuten später im Hotel anzukommen.

„Jederzeit, junge Frau", meinte Birger und blies den Zigarrenrauchs mit einem verschmitzten Lächeln in die Luft. Sogleich nahm der Wind ihn mit sich und die Rauchschwaden verblassten.

Ich krempelte meine Ärmel nach oben und hob einen Sandsack auf, um diesen auf den Anhänger zu werfen. Durch die sportlichen Aktivitäten hatte ich mit schweren Gegenständen kein Problem und wurde von einigen Frauen deshalb beneidet. „Fährst du heute noch raus?", wollte ich wissen und ließ mir von ihm den nächsten Sandsack reichen. Wir bildeten mit den anderen Männern und Frauen eine Kette und warfen sie uns zu. So ging es schneller, als wenn jeder einzeln zum Hänger lief.

„Habe ich vor, Fräulein. Hast du einen bestimmten Wunsch?" Typisch für Birger, die jüngere Generation so anzusprechen. Ich mochte seine Art, wie respektvoll er mit uns umging. Mit ihm konnte man sich prima über Gott und die Welt unterhalten, ohne für seine Gedanken verurteilt zu werden.

„Lachs. Ich muss anfangen, für den Winter einzufrieren, aber ich wollte diese Woche Fischsuppe machen", antwortete ich und hievte keuchend einen nassen Sack auf den Anhänger. Zum Glück milderte der Wind die Wärme und vertrieb die lästigen Mücken.

„Gerne. Ich rufe an, sollte ich von Njörðr gesegnet sein."

Ich grinste. Birgers Vorliebe zum nordischen Gott des Meeres und Windes kam wieder zum Vorschein. Er glaubte fest daran, dass Njörðr für einen guten, ausreichenden Fang verantwortlich war.

„Dann möge Njörðr dich segnen", sagte ich schmunzelnd und wartete auf den nächsten Sack. Allerdings waren alle verstaut und die Kette löste sich auf. Ich rieb meine Hände aneinander, um den Sand loszuwerden und verabschiedete mich von Birger und den anderen.

Ich setzte meinen Weg fort und erreichte nach einer viertel Stunde das Hotel an der Küste. Das aus Gold angefertigte Schild Solens Hotell glänzte im Sonnenschein und stach schon von Weitem ins Auge. Das Hotel der Sonne, wie es unter den Gästen genannt wurde, war klein, aber fein und das Lebenswerk meiner Eltern. Der Ausblick der Zimmer garantierte einen Blick aufs Meer, wahlweise auch auf die Landschaft Norwegens. Meine Eltern wollten den Gästen unvergessliche Sonnenauf- und Sonnenuntergänge bescheren, sowie einen Blick ohne Hindernisse auf die zahlreichen Winternächte, in denen Nordlichter den Himmel zu einem Farbspektakel werden ließen. Dafür hatten sie nicht nur große Fenster einbauen lassen, sondern auch auf dem Dach einen Platz errichtet, auf dem sich die Gäste dem verzaubernden Charme hingeben konnten. Die Terrasse, die fast das ganze Hotel umschloss, wurde ebenfalls dafür fleißig genutzt.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenKde žijí příběhy. Začni objevovat