Kapitel 4

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In den nächsten Tagen fühlte ich mich leer, als wäre nur noch eine Hülle von mir übrig. Ein Körper, der ohne Lebenswillen im Bett lag und an die Decke starrte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um den Schmerz in mir zu besiegen. Sven war die meiste Zeit da, sprach mit mir, hielt meine Hand und versuchte, mich aufzumuntern, doch er musste auch seiner Arbeit nachgehen und so ungern ich es zugab, ich genoss die Zeit, wenn ich allein im Zimmer war. So hatte ich Zeit für mich und meinen Schmerz, der mich bis in den letzten Winkel meines Körpers ausfüllte.

Körperlich verheilten die Verletzungen, doch von der Seele konnte keine Rede sein. Erst recht nicht, als Sven eines Abends den Termin für die Beerdigung verkündete und ich einen neuen Nervenzusammenbruch bekam, der nur mit Medikamenten ruhiggestellt werden konnte.

Zitternd wie ein Ast im Sturm lag ich im Bett und wusste nicht, ob ich in der Lage dazu war, der Beerdigung meiner drei Liebsten beizuwohnen. Gleichzeitig wusste ich, dass es meine Pflicht war, ihnen die letzte Ehre zu erweisen und ich begann, mich vor dem Tag zu fürchten.

„Du bist nicht allein, Freyja", sagte Sven und strich mir liebevoll über meine vom Weinen heiße Wange. „Ich bin bei dir. Gemeinsam schaffen wir es, versprochen."

Ich reagierte nicht auf die Worte, die in den letzten Tagen oft gefallen waren. Wie konnte Sven scheinbar so locker mit dem Verlust umgehen, während ich im Dreieck sprang und keinen klaren Gedanken fassen konnte? Lag es vielleicht an seiner Ausbildung, die ihm Ruhe in solchen Situationen lehrte? Er als Seelsorger musste sich einfühlen können, was er auch tat, und doch fühlte es sich nicht so an. Generell beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte und ich war mir sicher, dass es mit dem tragischen Tod zusammenhing.

Irgendwann hatte ich von Svens träger Stimme genug. „Helvete igjen!", fauchte ich und drehte mich erbost um. „Bitte geh für heute. Ich brauche meine Ruhe." Noch im Augenwinkel sah ich, wie verletzt er aussah und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Ruckartig drehte ich mich um und hielt sein Handgelenk fest. „Es tut mir leid, Sven", flüsterte ich beschämt. So schwer es mir fiel, ich durfte mich nicht nur auf mich selbst konzentrieren, immerhin hatte er auch einen Teil seines Lebens verloren. „Ich habe es nicht so gemeint. Ich bin nur ... ganz außer mir", versuchte ich mein Verhalten zu erklären. Ein Blick in Svens Augen genügte, um zu wissen, dass er besänftigt war.

Zärtlich strich er mir über die Haare und schüttelte den Kopf. „Nein, Freyja, es tut mir leid, dass ich mich dir aufdränge. Ich möchte nicht, dass du in der schweren Zeit alleine bist und kann nachvollziehen, wie du dich fühlst", erwiderte er. Er ließ sich wieder auf dem Bett nieder und malte Zeichen auf meinen Handrücken. „Ich vermisse Erik und wünschte, er wäre hier. Leider können wir die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können versuchen, mit den schönen Erinnerungen weiterzuleben. Meinst du nicht, dass wir uns darauf fokussieren sollten?"

Den Blick senkend, dachte ich nach. Erik hätte bestimmt gewollt, dass ich für ihn weiterlebe und all den Spaß erlebe, den wir vorhatten.

Nur ... wie sollte ich dem nachkommen? Ich fühlte keine Lebenslust mehr, sondern eher einen Sog, der mich auf die andere Seite holen wollte. Mit einem Mal begann mein Herz zu rasen. Dieser Traum mit der Treppe ... war er ein Symbol gewesen? Hatte ich eine Nahtoderfahrung erlebt, oder bildete ich es mir ein? Dunkel erinnerte ich mich an Artikel in Zeitungen, in denen Menschen von ihren Nahtoderfahrungen berichteten und aussagten, dass sie ein friedliches Gefühl verspürten und oft ein weißes Licht sahen.

„Deine Eltern würden sich auch im Himmel freuen, wenn du euer Hotel übernimmst, oder?", fragte Sven und ich nickte seufzend.

Nicht umsonst hatte ich ein Finanzmanagementstudium in Oslo absolviert, während Erik IT und Development bevorzugte. Seine Leidenschaft für Computer und Technik hatte es uns ermöglicht, in unseren jungen Jahren ein Eigenheim zu bauen, da er sein selbst erstelltes Programm für einen Batzen Geld verkauft hatte. Natürlich hätten wir Geld von meinen Eltern bekommen, doch da Erik bereits seit seiner Jugend getüftelt und, sobald es fertig war, in zahlreichen Firmen sein Werk präsentiert hatte, war das nicht nötig gewesen.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now