Kapitel 1

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Das Rauschen des Meeres umhüllte mich wie ein schützender Kokon, während ich den Wellen zusah, wie sie auf die Klippe der Küste trafen und sich mit einem ohrenbetäubenden Klatschen in unzählige Tropfen teilten, die durch die warmen Sonnenstrahlen einen Regenbogen bildeten.

Der Anblick der rauen Natur brachte meinen Körper zum Beben und ich erwischte mich dabei, wie gerne ich an der Klippe stehen und mich von den feinen Tröpfchen benetzen lassen wollte. Aufgewachsen mit viel Outdooraktivitäten war es für mich selbstverständlich, mich mit der Natur in Einklang zu bringen und ihren unendlichen Geschichten zu lauschen.

Ein einziger Gedanke hinderte mich an meinem Vorhaben, alles stehen und liegenzulassen: Ich musste meinen widerspenstigen Koffer zubekommen, noch bevor Erik ins Schlafzimmer kam.

Leicht gequält drehte ich mich um und seufzte. Der Anblick des Kleiderchaos auf dem Bett war unerträglich und die Unruhe in mir wuchs. Ich war ein ordnungsliebender Mensch und seit unser Haus fertiggestellt war, achtete ich darauf, dass alles seinen Platz hatte.

Ich ließ meinen Blick durch das lichtdurchflutete Schlafzimmer gleiten und schmunzelte beim Anblick der hellen Kommoden, auf denen nicht nur Erinnerungsfotos, sondern auch Pflanzen standen. Für alles, was Grün war, besaß ich ein Faible und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die Wände in dieser Farbe gestrichen. Da mein Verlobter und ich uns jedoch für ein Holzhaus entschieden hatten, stand außer Frage, die natürliche Farbe der Bäume zu präsentieren. Die hellbraunen Wände passten gut zu den teils rustikalen, teils modernen Möbeln und sorgten so für eine Harmonie, in der wir uns beide wohlfühlten.

Mein Lieblingsplatz im Schlafzimmer war das urgemütliche Boxspringbett, von dessen Nutzen ich Erik erst hatte überzeugen müssen. Jetzt war er derjenige, der morgens nicht aus dem Bett kam und sich trotz Weckers und Decke Wegziehens einfach zusammenrollte und wie ein kleines Kind weiterschlief. Der Anblick war so süß, dass ich mich dann einfach ans Bettende setzte und ihn für einige Minuten beobachtete, ehe ich die radikale Weckmethode in Form eines nassen Waschlappens anwandte.

Die Rache oder Retourkutsche, wie Erik sie nannte, bekam ich stets am Wochenende zu spüren, wenn ich länger schlafen wollte. Die Neckereien zwischen uns bestanden seit dem Tag, an dem wir uns das erste Mal gesehen hatte.

Mein Blick schweifte zu einem der Fotos, auf dem Erik, sein jüngerer Bruder Sven und ich auf einer Kletterburg auf dem ortsansässigen Spielplatz turnten und über und über mit Dreck bedeckt waren. Ich schloss meine Augen und sah genau die Szene vor mir.

„Hey! Mach Platz!", rief Erik und stemmte seine Hände in die Hüften. „Oder hast du vor, hier zu übernachten?"

„Redest du mit mir?", fragte ich mit einem Mix aus Angst und Unschlüssigkeit, ob ich die wackelnde Holzbrücke überqueren sollte oder nicht.

Erik verdrehte die Augen. „Ja, wen denn sonst? Du bist die Einzige, die den Weg blockiert! Mach Platz, Sven und ich müssen den Abgrund in dem gefährliche Krokodile lauern, überqueren, bevor uns die Wikinger angreifen!"

Ohne zu warten, packte er mich am Arm und zog mich zur Seite, ehe er mit seinem Bruder, der mehr schlecht als recht das Netz hinaufkletterte, an mir vorbeizog und: „Sie sind da! Lasst uns unser Dorf verteidigen!", rief. Darauf folgte ein Schlachtruf, der mich zusammenzucken ließ.

Plötzlich kamen von der anderen Seite drei Jungen in unserem Alter, die mich mit ihren Blicken fixierten. Ihr Anführer – ein hagerer Junge mit schief stehenden Zähnen –, lachte. „Seht mal. Die haben eine holde Maid! Schnappt sie euch und nehmt sie gefangen!"

Meinte er wirklich mich? Ich sah mich um und erkannte, dass ich als einziges Mädchen auf der Kletterburg herumturnte, während die anderen lieber im Sandkasten spielten oder schaukelten.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now