Kapitel 76

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Ab Februar begann die Zeit mit einem Schlag zu rasen. Die Tage wurden länger, der Schnee begann zu schmelzen und der geplante Bau stand in den Startlöchern.

Obwohl es einiges zu tun gab, gönnten Sven, Adrian und ich uns mehrmals einen Ausflug nach Narvik. Ich hielt mein Versprechen, Sven behutsam an die sportlichen Aktivitäten heranzuführen. Gemeinsam mit Adrian war das ein Kinderspiel und als wir zum ersten Mal einen kleinen Ausflug mit dem Motorschlitten unternahmen, erkannte ich den übermütigen Jungen in Sven wieder. Das Strahlen in seinen Augen und die roten Apfelbäckchen wärmten mein Herz.

Ein anderes Mal nahmen wir zuhause Nic und Suvinna mit. Durch das Zusammenleben waren sie unzertrennlich geworden. Musste Idun länger arbeiten oder etwas erledigen, passten sie aufopferungsvoll auf Großvater Geir auf und besuchten mit ihm seine demenzkranke Frau.

Wir bekamen mit, dass sich ihr Zustand rapide verschlechterte und sie ihren Mann kaum noch erkannte. Wie belastend es für Geir war, konnte ich mir vorstellen. Er tat mir unsagbar leid, aber er bewies Geduld und Hingabe.

In der Zeit sahen wir häufig Polarlichter, von denen Adrian Millionen Bilder schoss. Dafür lieh ich ihm meine Kamera und da wir die Bilder auf meinen Laptop zogen, stellte ich ohne sein Wissen ein Album mit den schönsten Erinnerungen für ihn und Nic zusammen. Material dafür lieferte mir nicht nur Suvinna, sondern auch Idun.

Wie immer schwiegen sich Adrian und Nic darüber aus, wie es in Zukunft weitergehen würde, aber mich beschlich das untrügliche Gefühl, dass sie uns dadurch Kummer ersparen wollten. Solange wir nicht wussten, ob sie tatsächlich nach Amerika zurückgingen oder nicht, lebten wir den Moment und trauerten nicht.

Anfang April erlebten wir eine unerwartete Überraschung.

Bei einem verspäteten, ausgiebigen Frühstück klingelte es plötzlich.

Fragend sah ich zwischen Sven und Adrian hin und her. „Erwartet einer von euch jemanden?", wollte ich wissen und stand auf.

„Nein", antworteten sie im Chor.

„Vielleicht ist es Nic", mutmaßte Adrian. Sein Sohn kam oft am Wochenende vorbei, aber normalerweise gab er vorher Bescheid.

Ich zuckte mit den Schultern und ging zur Haustür. Als ich diese öffnete, stand mir eine kleine Frau gegenüber. Eine Windböe erfasste einige Strähnen ihres vom Alter gezeichneten Haares, das lose zu einem Zopf zusammengebunden war. Mit ihren ozeanblauen Augen musterte sie mich von oben bis unten.

„God morgen", grüßte ich und erkundigte mich, ob ich ihr helfen konnte. Vielleicht hatte sie sich verlaufen und suchte nach Hilfe.

„God morgen, Freyja."

Erstaunt neigte ich meinen Kopf leicht zur Seite. Woher wusste sie von meinem Namen?

Die Frau kam mir bekannt vor ... Je mehr ich sie betrachtete, desto sicher wurde ich mir.

„Brinja?", fragte ich atemlos.

„So wahr ich hier stehe", antwortete Adrians Großmutter mit funkelnden Augen.

„Was machst du hier? Ich wusste gar nicht, dass du kommst!", rief ich bestürzt.

Abwehrend hob Brinja ihre Hände und lachte über das ganze Gesicht, als ihr Enkel auf der Bildfläche erschien. Sie schien den Moment zu genießen, in dem sich Adrian an seinem Bissen verschluckte und sie mit großen Augen anstarrte.

„Bestemor?" Sein fassungsloser Ausdruck sagte mir, dass er genauso wenig wie ich von ihrem Besuch wusste.

„Ihr solltet eure Gesichter sehen", kicherte Brinja, als sie eintrat. „Überraschung gelungen", murmelte sie zufrieden.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now