Kapitel 35

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Ein paar Wochen vergingen und jeden Tag zeigte sich die Sonne ein wenig kürzer. Es war jedes Jahr aufs Neue faszinierend, wie schnell sich die Tage verlängerten und verkürzten, aber auch, wie rasant sich die Jahreszeiten abwechselten. Ausgenommen der Winter, der meist mehr als sechs Monate dauerte.

Die Blätter der Bäume begannen, sich von ihrem Grün zu verabschieden und mit ihren Herbstfarben für ein Flammenmeer zu sorgen. Besonders morgens und abends war der Anblick ein Postkartenfoto wert. So auch heute.

Mit einer Tasse Tee saß ich samstagmorgens auf der Terrasse und beobachtete, wie sich die gefärbten Blätter im Wind bewegten und nach einem scheinbar endlosen Kampf ihren Halt verloren. Anstatt nach unten zu fallen, nahm der Wind sie mit auf eine Reise ins Unbekannte. Nicht alle waren gewillt. Sie blieben zurück und bedeckten das Gras und die Straßen, bis die Kehrmaschine die Gefahr für die Autofahrer beseitigte.

Seufzend nahm ich einen Schluck des Kamillentees und kuschelte mich in meine Wolljacke. Sie war ein Geschenk meiner Großeltern gewesen, auf das ich gut aufpasste. Dadurch wurde sie nicht so stark von der Zeit gezeichnet wie andere Kleidungsstücke. Seit dem Morgen war mir übel, was Sven sofort zum Anlass nahm, mich zu pflegen und zu verwöhnen. Einerseits war es schön, andererseits war es mir gerade lieber, wenn er im Gästezimmer war und lernte. Ich war froh darüber, dass ich bisher nicht zu einer Beziehung einwilligte und mit ihm das Bett teilte. So gerne ich ihn mochte, ich wollte nachts meinen Raum zum Zurückziehen und Träumen. Und das nicht nur von Erik, sondern auch von Adrian.

Seit unserem Kuss in Narvik war nichts dergleichen zwischen uns passiert und oft glaubte ich, dass ich alles geträumt hatte. Adrian benahm sich wie sonst, ärgerte mich jedoch gerne, indem er mir nahe kam und genoss scheinbar meine rosafarbenen Wangen sowie mein Stottern. Auch wenn ich langsam damit umgehen konnte, erwischte er mich stets in einem unvorbereiteten Moment.

Da Sven zwischen Lernstress, Terminen und Schulungen pendelte, verbrachten Idun, Adrian und ich oft die Wochenenden in Narvik oder unternahmen etwas zusammen. Manchmal traf ich mich nur mit Idun und Suvinna, ein anderes Mal waren es Adrian und sein Sohn. Es war eine Abwechslung, die mir gefiel.

„In den kommenden Tagen wollen wir die Walsafari machen, bevor das Wetter uns dazu zwingt, Eskimoanzüge zu tragen."

Seine Bemerkung traf den Nagel auf den Kopf, denn Anfang Herbst waren die Tage noch angenehm. Das konnte sich binnen kurzer Zeit ändern, doch der Wetterbericht versprach für die Woche Sonnenschein.

Idun und Suvinna wehrten sich weiterhin vehement dagegen, mitzukommen. Unter anderem auch, da sie ihre Großeltern aus einem traurigen Grund besuchen wollten. Suvinnas Großmutter litt an Demenz und die Pflege zuhause wurde für ihren Ehemann so schwer, dass er sich schweren Herzens entschloss, sie in ein Heim zu geben. Schon lange hatte Idun versucht, ihm das klarzumachen, denn er selbst war auch nicht mehr der Jüngste und wurde von so manchen Wehwehchen heimgesucht. Doch er als Norweger war ein alter Sturkopf und bisher der Meinung, es allein zu schaffen.

Sobald die Großmutter versorgt wäre, würde er mit seiner Tochter und Enkelin zusammenleben. Ein Glück, dass sie in Bleik wohnten. Die kleine Gemeinschaft lag nur wenige Minuten mit dem Auto von Andenes entfernt und da das hiesige Krankenhaus über einen Flügel für Altenpflege verfügte, lag es nahe, dass die Großmutter dort unterkam. So viel ich wusste, hatte Idun lange für den Platz gekämpft. Für den Umzug hatten Adrian, Nic, Sven und ich uns bereits freiwillig gemeldet. Zudem wollte Bjørn aushelfen, während Eira die Stellung im Hotel hielt.

Zurzeit hatte ich das Gefühl, dass die Buchungen nicht mehr abrissen. Allen voran kamen sie aus den Niederlanden, was uns sagte, dass Levi mit seinem Prospekt großen Erfolg hatte. Uns hatte er einige Exemplare zukommen lassen, die wir in der Eingangshalle ausstellten. Eine weitere Ladung würde in den nächsten Tagen eintreffen, da sie bei den Gästen gut ankamen.

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now