Kapitel 59

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Nach der Schicht trat ich in die Nacht hinaus und sog die eisige Luft in meine Lungen auf. Es sollte wehtun, sie zum Bersten bringen, und doch fühlte ich nichts. Dafür erschwerte mir ein Kloß im Hals das Atmen und die Temperatur drang in sekundenschnelle durch die dünne Kleidungsschicht.

Ich ließ meinen Blick über das schwarze Meer gleiten und sah zum Leuchtturm, der sich mit seiner roten Farbe und der Größe bei Tageslicht von anderen Gebäuden abhob. Das gleißende Licht im Turmhaus sorgte für eine sichere Fahrt bei Nacht und hatte seit seinem Bestehen einigen Schifffahrern das Leben gerettet.

So gern ich mich in den Seemannsgeschichten verlor, heute war mir nicht danach zumute. Mein Weg führte direkt zur Andenes Kirke. Sie stand zu jeder Uhrzeit den Anwohnern offen und Pfarrer Aegir vertraute darauf, dass nichts gestohlen wurde. Bisher war nichts dergleichen vorgefallen, und wir genossen das gegenseitige Vertrauen.

Ob Pfarrer Aegir zur späten Stunde noch anwesend war? Ich ging nicht davon aus.

Leise öffnete ich die Tür und spähte hinein. Das dämmrige Licht ließ die Kirche wie einen warmen, willkommenen Ort wirken. Ich trat ein und seufzte leise, als ich fürs Erste von der Kälte abgeschirmt war.

„Pfarrer Aegir?", flüsterte ich. Durch die Stille hallten meine Worte wie zwischen den Bergen. Angespannt lauschte ich auf eine Regung, die jedoch ausblieb. Deshalb setzte ich mich in Bewegung und schauderte, denn meine Schritte hörten sich in dem Augenblick für mich wie Peitschenknalle an. Langsam ging ich durch die Reihen und sah in die Vergangenheit zurück. Wie ich mit meinen Eltern, Erik und Sven das Sonntagsgebet gespannt mitverfolgte und die Lieder in voller Lautstärke, aber nicht übertrieben, mitsang. Wirklich gläubig war ich nie gewesen, doch die Stimmung, die Pfarrer Aegir verbreitete, hatte mir bereits damals imponiert und gefallen.

Ich ging zu der kleinen Holzbank, die mit einem dunklen Samtkissen überzogen war und kniete mich darauf nieder. Die Hände wie beim Beten gefaltet, sah ich zu Jesus Christus am Kreuz hinter dem Altar.

„Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt und du mich liebst ... warum lässt du mich gerade durch die Hölle gehen? Warum lässt du mich im Stich und lässt zu, dass mir Geliebten weggenommen werden?", fragte ich in die Stille hinein. Weiße Wölkchen bildeten sich vor meinem Mund und stiegen in die Höhe. Ich verfolgte sie, bis sie sich auflösten und wandte meinen Blick wieder zu Jesus Christus.

Der Kloß in meinem Hals wurde dicker, doch die erlösenden Tränen und Gefühle brachen einfach nicht heraus. „War ich so böse, dass ich es nicht verdiene, glücklich zu sein? Wäre es eine Sünde, wenn ich Sven allein lasse und dorthin gehe, wo Kjæreste, Mamma og Pappa sind? Würdest du mich aufnehmen oder würde ich in der Hölle landen?"

Mein Wunsch, allem den Rücken zu kehren, wurde sekündlich stärker. Was hatte ich noch zu verlieren? Adrian und Idun würden das Hotel übernehmen und ich war mir sicher, dass beide geeignet dafür waren. Ich mochte Adrian sehr gerne, doch er würde wahrscheinlich niemals das Loch in meinem Herzen füllen können. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass er deswegen verletzt wird.

Tief atmete ich ein und aus und spürte, wie meine Lippen bei den nächsten Worten zitterten. „Ich möchte zu meinen Geliebten. Bitte empfange mich und gestatte mir, zu ihnen zu gehen, wenn es soweit ist."

Minutenlang blieb ich kniend auf der Bank, bis meine Zähne aufeinander klapperten. In Zeitlupe erhob ich mich und verließ die Kirche.

Auf dem Weg nach Hause traf ich niemanden. Eine Windbrise ließ mich zittern, doch anstatt mich aufzuwärmen, schnappte ich mir die Autoschlüssel und verließ mein Zuhause. Ich ließ Andenes hinter mir und hielt wenige Minuten später auf dem Parkplatz des Bleik Kirkegård an. Dort besuchte ich das Grab meiner Geliebten und sprach mit ihnen.

„Mamma, Pappa, Kjæreste ... Bald bin ich bei euch, versprochen. Verzeiht, dass ich Sven allein lasse, aber ich halte es ohne euch nicht mehr aus. Merrit hat euch auf dem Gewissen und ich hoffe, sie und ihre Schwester werden dafür büßen", erzählte ich und ich stellte fest, dass meine Stimme klanglos und tot war. Als wären meine Gefühle auf Eis gelegt worden. „Ich fahre nach Narvik ... der Ort, an dem wir so glücklich waren ... dort möchte ich zu euch kommen. Wartet auf mich."

Nach diesen Worten kehrte ich dem Friedhof den Rücken und fuhr weiter.

Wie ich es ohne Unfall nach Narvik schaffte, ist mir ein Rätsel. Allein meine Geschwindigkeit hätte den Verkehr gefährdet, doch als ich die letzte Straße, die den Berg hinaufführte, vor mir sah, sank mein Herz. Natürlich war sie völlig zugeschneit und da ich den Räumdienst nicht angerufen hatte, war mit dem Auto kein Durchkommen.

Ich stieg aus und kämpfte mich zu Fuß durch die Schneemassen. Aufgrund der schlechten Ausstattung und der Dunkelheit kam ich wie eine Schnecke voran, aber das war mir egal. Ich wollte etwas fühlen, auch wenn es Schmerzen waren. Als Strafe, dass ich leichtsinnig war und wissen wollte, ob ich noch am Leben war. Der Tag kam mir wie ein Albtraum vor.

Hätte ich wenigstens eine Stirnlampe und Schneeschuhe mitgenommen ...

Der Gedanke, bald mit meinen Geliebten wieder vereint zu sein, trieb meinen Körper zu ungeahnten Höchstleistungen an. Auf dem Weg nach oben legte ich eine kurze Pause ein und schrieb eine Abschiedsnachricht, in der ich mich bei Sven und Idun entschuldigte, sie allein zu lassen. Ich hoffte, dass sie verstehen würden, warum ich nicht mehr bei ihnen bleiben konnte und wollte. Gerade gegenüber Sven war es unfair, denn sobald Merrit festgenommen werden würde, war er ganz allein.

Deshalb zögerte ich einen Moment mit dem Abschicken. Erik würde wollen, dass ich auf seinen Bruder aufpasse und ihm in der schweren Zeit beistehe, so wie er mir. Ich liebte Sven, aber in mir bestand die Angst, dass ich ihn mit anderen Augen sehen würde, weil seine Freundin unser Leben zerstört hatte. Es war nicht seine Schuld, aber würden wir wie früher miteinander umgehen können? Ich wusste es nicht.

Mein Herz klopfte unregelmäßig gegen meine Brust, als ich ohne weiter nachzudenken auf absenden drückte und mein Smartphone ausstellte. Mir war bewusst, dass mich beide mit Anrufen und besorgten Nachrichten bombardieren würden, aber es war mir lieber, es bei der letzten zu belassen.

Kurz und schmerzlos ...

Endlos lang zog sich der Weg hin, und ich atmete auf, als ich die vertraute Umgebung wahrnahm. Ich hatte es geschafft ... Nicht mehr lange, und ich würde mit meinen Liebsten vereint sein. Musste ich jetzt nicht Erleichterung verspüren? Warum herrschte in mir nichts außer gähnender Leere?

Ich überwand die letzten Meter zur Hütte und fegte halbherzig den Schnee mit den Händen weg. Zitternd steckte ich den Schlüssel ein und öffnete die Tür. Es war kalt und düster, doch ich machte mir keine Mühe, ein Feuer anzumachen. Mein Weg führte schnurstracks zum Kamin. Dort ließ ich mich auf dem Bärenfell nieder und schlang meine Arme um meine Beine. Die Stellung eines Fetus eingenommen, bettete ich meinen Kopf auf dem Boden und starrte in der Dunkelheit.

Ich wartete. Ich wartete, darauf, dass all meine Emotionen aus mir herausbrachen und mir das letzte Fünkchen an Kraft nahmen, das mich gerade am Leben erhielt. Mein Körper zitterte wie Espenlaub und ich wusste, dass es lediglich eine Frage der Zeit war, bevor die Kälte für meinen letzten Atemzug verantwortlich wäre.

Konnte es nicht endlich passieren?

In Gedanken stellte ich mir vor, wie mich meine Geliebten im Himmel begrüßten und spürte, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. In meinem Hals begann es zu kratzen und unangenehm zu stechen, als würde ich eine Erkältung bekommen.

Das war im Himmel egal. Nichts hielt mich mehr auf der Erde. Die vergangenen Monate waren eine Achterbahn an Gefühlen gewesen und ich hatte meinen Wunsch, mit ihnen wieder vereint zu sein, immer weiter untergraben.

Doch nun ... gab es nichts anderes mehr, das ich wollte.

Warum schlief ich nicht einfach ein? War es der angeborene Überlebensinstinkt, der mich wachhielt und mit einem langsamen, quälenden Tod bestrafte?

Midnight Sun - Ein Jahr zum VerliebenWhere stories live. Discover now